Kapitel 2

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Kapitel 2

Ich schlucke. Was habe ich denn schlimmes gemacht, das sie gleich so einen Typen schicken müssen? „Sind Sie Maja Travers?" wiederholt er, dieses Mal etwas lauter und energischer. Also der hat definitiv mal keine gute Laune. Ich nicke. Er schaut auf sein Klemmbrett. Als ich einen Blick darauf erhaschen kann, sehe ich darauf ein Foto von mir, mitsamt meiner ganzen Daten und Anschrift. Ich runzle meine Stirn. Was wird hier bitte gerade gespielt?

Mittlerweile ist auch meine Mutter hinter mir erschienen. „Guten Tag. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ihre Tochter Maja die Auserwählte für dieses Jahr ist. Ich werde sie jetzt mitnehmen. In zwei Tagen ist es schon so weit. Ihre Tochter verdient den Dank des Volkes, und sie leistet einen großen Dienst für unser Land. Außerde..." Meine Mutter unterbricht den Mann mit tränenerstickter Stimme. „NEIN, ich WEIGERE mich meine Tochter als Auserwählte herauszugeben!" So wütend habe ich sie noch nie schreien hören.

Jetzt erst verstehe ich, worum es geht. Es ist wieder so weit. Jahr für Jahr wird durch ein Orakel die Auserwählte, das Opfer des Volkes ermittelt. Und ich soll es dieses Jahr sein!? ICH soll von der Klippe springen? ICH soll mein Leben für das Volk lassen?

„ Mrs Travers. Es hat keinen Zweck. Ihre Tochter stirbt so oder so. Entweder sie stirbt alleine als unser Opfer, oder sie wird mit uns allen sterben, wenn durch die Verweigerung der Springerin unser ganzes Land überflutet wird. Des Weiteren kursieren Gerüchte über den Zusammenhang der Flutwelle und den Springerinnen. Und der Großteil der Bevölkerung glaubt ihnen. Wissenschaftlich ist es zwar noch nicht erwiesen, aber mit einer großen Wahrscheinlichkeit ist das wahr. Zahlreiche Studien belegen das, sie müssen nur noch offiziell als glaubhaft ausgewiesen werden. Und meinen Informationsquellen zufolge ist das schon so gut wie .. Sie wissen, vor 11 Jahren gab es eine schreckliche Flut - und die Folgen haben wir heute noch schwer zu tragen. Seit es die Springerinnen gibt haben wir dieses Problem nicht mehr, seitdem gab es keine Überschwemmungen mehr!"

„Ach was, das ist doch alles Schwachsinn! Nur weil einmal ein unglücklicher Zufall geschehen ist, halten alle eisern an dieser Tradition fest! Ich werde auf jeden Fall nicht zulassen, dass meine Tochter wegen der Hirngespinste irgendwelcher hohen Tiere in unserem Land sterben muss!" Sie ist außer sich vor Zorn. Dann wirft sie mir einen Blick zu, der sagt „LAUF!" Ich blicke in ihre traurigen, wütenden und doch liebenden Augen. „Ich ...Ich liebe euch..." der dicke Kloß in meinem Hals schneidet mir das Wort ab. „Wir dich auch!" ruft mir meine Mutter verzweifelt hinterher. Und dann renne ich los. Ich wage es nicht einen Blick zurückzuwerfen, in der Angst dadurch langsamer zu werden. Ich renne in irgendeine Richtung so schnell ich nur kann, und so schnell ich jemals nur gerannt bin, doch es ist zu langsam. Sie holen mich ein. Drei große Männer in schwarz-grauer Uniform. Sie packen mich und zerren mich zurück zu unserem Haus, wollen mich in ein Auto zerren. Ich schlage, beiße, trete um mich, wehre mich nach Leibeskräften, aber gegen diese drei Gorillas habe ich keine Chance. Schließlich schaffen sie es, mich gewaltsam in ihr Hochsicherheitsauto zu sperren.

Ich sitze am Fenster und die Tränen laufen mir übers Gesicht. Meine Mutter will zu mir, doch die Männer halten sie fest. Auch Anope weint, und auch sie wird von einem Mann festgehalten. Dann geht alles ganz schnell. Die Männer spurten zum Auto, setzen sich hinein, und fahren in Höchstgeschwindigkeit los. Ich klopfe an die Scheiben, schreie, versuche die Tür aufzureißen. Zwecklos.

„Beruhigen Sie sich. Es hat keinen Sinn, vergeuden Sie nicht ihre Energie" Eine nüchterne Stimme unterbricht meinen Lärm. „NEIN! SIE HABEN MIR GAR NICHTS ZU SAGEN!!!" kreische ich ihn an. Er wirft seinen Kollegen einen Blick zu, dann greift er in seine Aktentasche und holt eine Spritze heraus.

Was hat der jetzt vor? Der wird mir doch nicht irgendein Beruhigungsmittel spritzen!? Doch ich habe meine Gedanken noch nicht mal ganz fertig formuliert, da durchfährt meinen Oberarm einen stechenden Schmerz. Ich werfe einen Blick darauf- Dieser Typ hat mir doch tatsächlich diese Spritze in den Muskel gerammt - Der kann was erleben! Plötzlich wird mir schwindelig. Ich vergesse was ich tun wollte, und werfe einen Blick zurück aus dem Fenster.

Meine Mutter und meine Schwester rennen dem Auto hinterher, doch sie sind zu langsam und fallen immer weiter zurück. Ich sehe nur noch wie meine Mutter erschöpft auf der sandigen Fahrbahn zusammenbricht. Und dann sind sie weg.

Das war das letzte Mal das du deine Familie gesehen hast...Tausende traurige Gedanken schießen mir durch den Kopf. Ich kann nicht anders. Ich will hier einfach raus, den Fahrer und seine Kumpanen K.O schlagen, aus dem Wagen springen, und sofort zu Mama und Anope. Ich will ihnen sagen dass alles gut ist. Doch das ist es nicht. Ich will fliehen, weit, weit weg von hier, und nie wieder zurückkommen. Ich will nur in Frieden leben. Mehr will ich nicht - mehr brauche ich nicht. Ich brauche weder Ruhm noch Reichtum. Ich brauche nur meine Familie. Und selbst das wurde mir genommen. Ich fühle mich wie ein Lamm auf dem Weg zum Schlachthof. Mehr und mehr verliere ich die Kontrolle über meine Gedanken, dämmere weg. Ich nehme alles verschwommen wahr, und dann wird mir schwarz vor Augen.

Den Rest der Fahrt bekomme ich nicht mehr mit ,ich komme erst wieder langsam zu Bewusstsein als der Wagen hält, und meine Tür geöffnet wird. Das Auto befindet sich in einer Art riesiger, moderner und edler Garage. Es führt kein Weg nach draußen, nur durch eine geöffnete Tür erkenne ich einen Aufzug. Immer noch komme ich mir wie benebelt vor, will aufstehen und wegrennen, doch sobald ich versuche mich hinzustellen, sacke ich seitlich weg. Mein Körper fühlt sich an wie Wackelpudding, meine Muskeln sind völlig entspannt. Gerade noch rechtzeitig fängt mich einer der Anzug-Menschen auf.

Wie eingepackt in eine dicke Schicht aus Watte bemerke ich, dass mittlerweile eine ganz in weiß gekleidete Frau zu uns gestoßen ist. Sie schiebt irgendeine Liege vor sich her, auf die mich einer der Männer hebt. Meine Augen sind immer noch Bleischwer, und ich kämpfe gegen den Drang an sie zu schließen. Ich höre zwar, das die Menschen aufgeregt miteinander sprechen, bin aber nicht in der Lage irgendetwas zu verstehen. Was für ein Zeug hat der mir da gespritzt?!

Auch meine Augen scheinen nicht mehr so richtig zu funktionieren- ich sehe nur noch verschwommen. Die weiße Frau ist über mich gebeugt, und begutachtet mich. Weiß- eine unschuldige Farbe, könnte man meinen. Bei dieser Frau hier ist das alles nur scheinheilig- ich meine, wer kann bitte unschuldig sein, der den jährlichen Sprung eines Mädchens von der Klippe und damit in den Tod mitorganisiert? Mit ihren weißen Kleidern will sie ihre Schuld verdecken, folgere ich. Psychologie war immer ein Fach gewesen, das mir Freude bereitete.

Wo schieben die mich nur hin? Ich will jetzt sofort wissen, was mit mir passiert!

Langsam beginne ich wieder klar zu sehen, zu hören und zu denken. Ich versuche meinen Arm zu heben, und bemerke dabei, das ich wieder Kontrolle über meinen Körper habe. „Sie ist besonders schwierig, habe ich den Eindruck" - „Ja, aber auch sehr hübsch" - „Temperament hat sie auf jeden Fall, ich denke sie ist eine würdige Springerin" Ich kann einzelne Gesprächsfetzen aufschnappen.

Ich warte noch fünf Minuten, dann setze ich mich ruckartig auf, und versuche von der Liege zu springen und wegzurennen. Ich bin wie angeklebt auf ihr - oder eher angebunden. Drei breite Gurte fixieren mich. „Oh, Sie sind wieder bei Bewusstsein!" Der größte meiner drei Entführer klingt überrascht. Ich versuche mich frei zu strampeln, bis ich auf die Idee komme die Gurte zu öffnen. Mit zitternden Fingern ziehe ich am obersten der drei herum. Bis eine starke Hand meinen Arm packt, und mir eine zweite Spritze verabreicht. Ist das eine geeignete Art Probleme zu lösen? Immer wenn ein Konflikt droht, die andere Person durch irgendwelche Medikamente außer Gefecht setzen? Ich runzle die Stirn. Das bekannte Schwindelgefühl taucht wieder auf, doch mein Inneres strebt sich dagegen mich wieder hinzulegen. Meine Liege ist stehen geblieben. Als ich mich umschaue erkenne ich wo: In einem breiten Gang mit grünen Wänden. Alle vier Meter leuchtet eine Lampe an der Wand, die wohl stimmige Lichteffekte zaubern soll. Meine Wahrnehmung schrumpft und schrumpft. Ich höre nur noch ein Rauschen, meine Muskeln werden schwach, und schließlich sinke ich doch wieder in eine liegende Position. Das letzte was ich sehe, bevor mir wieder schwarz vor Augen wird ist die Decke, die ebenfalls in einem fröhlichen Grünton gestrichen ist. Wo bin ich da nur rein geraten?

Pearl of hopeWhere stories live. Discover now