5 | Not Fall

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„Ein Problem? Sind wir etwa zu spät?" Renard schaute auf die Anzeige, die immer noch penetrant aufblinkte. Xander schüttelte den Kopf und sah sich auf dem Platz um. Er hatte schon mal von einem Kollegen gehört, dessen Zeit abgelaufen war, bevor er zurückkommen konnte. Doch er hatte Glück gehabt. Ein anderer Kollege hatte sein Missgeschick bemerkt und ihn manuell geweckt, sobald er zurück im Institut gewesen war.

Doch heute war niemand mehr in der Oasis. Und es war Xanders eigene Schuld, weil er unbedingt den Sonnenuntergang hatte sehen wollen! Er hätte sich selbst ohrfeigen können, dass er nie daran gedacht hatte, sich für einen Notfall zu rüsten. Zu unwahrscheinlich war ihm der Gedanke gewesen, dass in einem so hochtechnisierten Unternehmen wie dem Elysium Haven, ein Totalausfall ihm den Rückweg versperren könnte.

„Was ist nun? Gehen wir nach Hause, oder müssen wir hier bleiben? Wie werden Überstunden eigentlich bezahlt?" Xander schnaubte bei den Fragen des Rekruiten. Schlimm genug, dass er selbst in dieser Situation war. Doch sich nun auch noch um Renard sorgen zu müssen, setzte den sonst so souveränen Ausbilder unter Druck.

„An dieser Situation ist nichts Lustiges", blaffte er und begann dann, den Platz auf und ab zu schreiten. Bewegung, wenn auch nur im Geiste, half ihm meistens beim Denken. Doch heute wollte sich das erlösende Gefühl einer guten Idee nicht so recht einstellen.

Wie eine Maschine ging er im Kopf das Handbuch durch. Er hatte es auswendig gelernt um jederzeit daraus rezitieren zu können. Eine seiner wenigen Talente, wie er selbst gern behauptete, war sein fotografisches Gedächtnis. Alles, was er einmal gesehen hatte, brannte sich durch seine Netzhaut direkt in seine Erinnerungen und war dort jederzeit wieder abrufbar. Witzigerweise ähnelte die Bibliothek, oder auch „Gedankenpalast", wie der vor über dreihundert Jahren verstorbene Schriftsteller Arthur Conan Doyle es einst so treffend formulierte, in Xanders Kopf der Oasis. Zumindest die Abteilung, in der das Handbuch stand. Nun hier umherzuwandern half ihm, sich an alles zu erinnern, was darin stand.

Die blaue Tür von Mr. Harker: „Kapitel 5: Was Sie bei einer Störung tun können.
Im unwahrscheinlichen Falle einer technischen Störung, bewahren Sie Ruhe und wenden Sie sich an einen Sicherheitsbeamten. In jedem Quartier befindet sich ein Spähturm, der von einem Beamten geleitet wird. Für die Koordinaten in ihrem Quartier, drücken Sie den kleinen Stift ihrer Ausrüstung in die rote Öffnung neben dem Kartenbildschirm."

Xander atmete erleichtert auf. Wenn sie Glück hatten, würden sie mit der Hilfe der Karte auf dem kleinen Display in seinem Transponder und den Koordinaten den Spähturm finden und somit einen Sicherheitsbeamten. Vorausgesetzt, dieser war noch nicht im Feierabend.

„Okay, Renard", sagte Xander nun sicherer, „es gab wohl ein kleines technisches Problem. Aber wir wissen, was zu tun ist. Wir gehen zu einem Sicherheitsbeamten und der wird uns wieder hier rausbringen. Es handelt sich nur um eine kleine Verzögerung." Xander staunte über sich selbst. Fast hätte er sich die Zuversicht abgekauft. Doch irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm, dass es nicht so leicht werden würde, wie er es Renard verkauft hatte.

Doch der schien fast schon zu entspannt mit der Situation umzugehen, nickte nur und wartete auf weitere Anweisungen. „Also", erklärte Xander, „an unserem Display können wir einen Mechanismus aktivieren, der uns Koordinaten für einen Spähturm gibt. Dort sollte ein Wachmann sein, der uns helfen kann!" Etwas umständlich fummelte Xander einen dünnen Stift in die kleine Öffnung.

„Können wir nicht einfach bis morgen warten und uns in der Zwischenzeit ein wenig umsehen?", schlug Renard vor. Xander lachte  höhnisch auf.

„Du möchtest wirklich eine ganze Nacht in der Oasis verbringen?", fragte er.

„Ja, wieso nicht? Ist doch ganz nett hier." Xander unterbrach den Versuch, den Mechanismus zu aktivieren, und sah das Greenhorn ungläubig an.

„Weißt du noch, was ich dir über das Verhältnis von Zeit hier unten gesagt habe?", fragte er rhetorisch, da er nicht davon ausging, dass die Antwort „Ja" sein würde.

„Du sagtest", überlegte Renard laut, „dass die Zeit in den Träumen viel langsamer verläuft als in der realen Welt.

„Richtig", bestätigte Xander. „Doch auch die Zeit in der Oasis läuft bereits langsamer. Es sind über den Tag verteilt nur ein paar Stunden. Doch es ist Wochenende. Und was meinst du wohl, was mit deinem Körper passiert, wenn du von Freitag bis Montag weder etwas essen, noch trinken, noch auf die Toilette gehen kannst?"

„Aber hier drin haben wir doch diese Bedürfnisse gar nicht", wunderte sich Renard. Xander sagte nichts und versuchte, weiter den kleinen Stift in den Transponder zu stecken.

„Ah", hörte er seine Begleitung plötzlich sagen, als dieser zu begreifen schien, das Xander von ihren Körpern, in der echten Welt gesprochen hatte.

„Genau", bestätigte er kurz, als es plötzlich ‚Klack' machte und der Bildschirm seines Transponders hell aufleuchtete. Xander wollte sich gerade freuen, als der Bildschirm auch schon wieder schwarz wurde. ERROR stand dort im großen Buchstaben geschrieben.

„Nein!", schrie er wütend, „Das darf doch alles nicht wahr sein. Probiere, ob es bei dir funktioniert." Er reichte Renard den Stift.

„Hier, du musst..."
„Das sind ja quietschgelbe Gummistiefel!", kreischte Renard überrascht dazwischen.
„Was?"*
Xander sah den Jungen, der wie gebannt auf seine Schuhe starrte, verwirrt an.
„Da!", sagte er und zeigte auf ihre Schuhe.

Tatsächlich. Xander und Renard trugen quietschgelbe Gummistiefel. „Was zum Teufel ist hier los?" Xander verstand die Welt nicht mehr. Das Ganze musste irgendeine Art von Updatefehler oder Virusprogramm sein. Anders konnte er sich diese Situation nicht erklären. Erst das Tor, dann der defekte Transponder und nun gelbe Gummistiefel. Was kam als Nächstes?  Einhörner und Regenbogen?

„Also, ich finde sie ganz wunderbar", lachte der Junge und begann seine Schuhe im letzten Licht der untergehenden Sonne zu bewundern.

„Was habe ich nur verbrochen, dass ich damit bestraft werde, ausgerechnet mit dir hier eingesperrt zu sein?", fragte Xander gerade heraus.

„Wir haben doch alle unser Päckchen zu tragen, Xander Breeze", grinste Renard vielsagend und Xander lief ein kalter Schauer über den Rücken.

Innerhalb von Sekunden hatte sich sein Bild von dem ausgelassenen und naiven Jungen, den man nicht richtig ernst nehmen konnte, zu einer Person gewandelt, die er scheinbar unterschätzt hatte. Er konnte nicht genau benennen, was ihm plötzlich dieses Unbehagen in der Magengegend bescherte. Doch Renards Aussage, in Verbindung mit diesem kurzen Funkeln hinter den Augen, welche die KI erfolgreich durch das Lesen seiner Gedanken übertragen hatte, ließ ihn frösteln.

Vielleicht, dachte er, war dies alles ja auch gar kein Zufall. Vielleicht wollte jemand, dass er und Renard genau jetzt hier waren. Allein und ohne Hilfe.
Nur mit quietschgelben Gummistiefeln.

* Februar Schreibvorschlag von _Jay_M_

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⏰ Last updated: May 16 ⏰

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