1 | Das Institut

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„Was ist das?" Freche Finger griffen nach dem handgroßen technischen Gerät, das auf dem Schreibtisch zwischen dem Besitzer der Finger und seinem Ausbilder lag.
„Fass das nicht an!" Der Ältere faltete gerade die unterschriebene Arbeitsanweisung fein säuberlich zusammen, als er den Blick alarmierend auf die Hände des Jüngeren richtete.
„Ich wollte ja nur wissen, ob ...", meinte der Junge und hatte bereits seine Hand um das Gerät geschlossen und es hochgehoben. Dem Älteren wurde es zu viel, sodass er gezwungen war, ein Machtwort zu sprechen. „Finger weg, hab ich gesagt!"

Unsanft riss Xander Breece, seinem neuen Kollegen das empfindliche Gerät aus den Händen. „Das", sage er mit Nachdruck und band sich das kleine Gerät mit einem Klettband am Arm fest, „ist ein Transponder. Genauer gesagt ist es mein Transponder. Er stellt sicher, dass wir pünktlich und unbeschadet auch wieder aus dem Hades herauskommen."

Routiniert zog er ein ähnlich aussehendes Gerät aus der Schublade seines Schreibtisches, wo er es zuvor deponiert hatte, und reichte es dem neuen Kollegen. „Hier ist deiner. Pass auf, dass du ihn nicht verlierst, es könnte deinen Tod bedeuten", sagte er mit bewusst tiefer Stimme, um dem Rekruten den Ernst der Lage bewusst zu machen. „Und nun begleite mich auf meiner heutigen Tour durch die Unterwelt!" Mit diesen Worten verstaute er den Zettel mit der Unterschrift in der nun frei gewordenen Schublade und stand auf. Mit einer Handbewegung deutete er dem Jungen an, ihm zu folgen.

„Du meinst die Traumwelt, oder?", fragte der Junge, der versuchte mit dem Älteren Schritt zu halten und der Xanders Vermutung nach noch grün hinter den Ohren sein musste. Wie alt war er? Sechzehn? Siebzehn? Wer hatte den überhaupt eingestellt? Sassy sicher nicht, die hätte den Halbstarken gleich bei der ersten VC ausgefiltert. Aber leider war Sassy im Urlaub und Biff hatte das Recruitment übernommen.

Xander schüttelte resigniert den Kopf mit den pinken Strähnen auf dem dunklen Schwarz. Biff war ebenfalls die Inkompetenz in Person und hatte den IQ einer Schnecke. Leider war er der Cousin der Tante des Bruders der Besitzerin, oder so und hatte irgendwie Glück gehabt, dass man ihn eingestellt hatte.

Glück hatte Xander auch gehabt, als er vor einigen Monaten eher zufällig von dieser freien Stelle gehört und mit Sassy eine großartige Fürsprecherin gefunden hatte. Da ihm der Job wirklich Spaß machte und er endlich einmal in etwas gut war, hielt er es nun auch schon eine Weile hier aus und war sogar schon befördert worden. Statt nur ein einfacher Reiseleiter, war er nun auch Ausbilder im Institut und durfte diesen neuen, wenn auch viel zu neugierigen, Rekruten auf seine letzte Tour für diese Woche mitnehmen.

"Die ‚Traumwelt' ist eigentliches ein hochkomplexes Netzwerk aus Datensträngen, die, ähnlich wie das Internet bestimmte Punkte miteinander verbinden und so eine gemeinsame Welt erschaffen, in der alle zusammen und auch jeder für sich verbringen kann", erklärte Xander dem Neuen. „Dabei ist diese Welt, oder auch Elysium Haven, wie ihre Schöpfer sie nennen, von der Außenwelt abgeschirmt und kann nur über bestimmte Portale von uns und unseren Klienten betreten werden. So stellen wir sicher, dass diese Welt ein friedlicher und paradiesischer Hafen bleibt, den unsere Kunden so schätzen." Den letzten Satz betonte er dabei bewusst übertrieben, so wie er ihn in seiner Schulung und den regelmäßigen Auffrischungskursen im Institut immer wieder gehört und inzwischen schon verinnerlicht hatte.

„Aber könnte nicht jemand von außen versuchen, diesen Hafen einzunehmen?" Xander blieb abrupt stehen und drehte sich schwungvoll zu der Nervensäge um. „Was bist du? Ein Spion?" Skeptisch blickte Xander den Jungen aus funkelnden blauen Augen an. Der blonde Junge konnte seine Schritte noch rechtzeitig stoppen, bevor er mit Xander zusammengestoßen wäre und errötete leicht. „Ich ähm... Ich dachte nur...", stotterte er unsicher.

„Nicht denken, zuhören! Ich sagte bereits, dass der Hafen von der Außenwelt abgeschirmt ist und nur wer sich darin befindet, könnte Schaden anrichten. Aber das ist in all den Jahren noch nie jemandem gelungen, weil wir unser Personal eigentlich sehr sorgfältig auswählen."

„Was heißt das?", wollte der Junge wissen. Der gab wohl nie auf. „Das heißt", sagte Xander und drehte sich wieder um, um seinen Weg den langen weißgestrichenen Gang zum Kontrollraum fortzusetzten, „dass wir nie Leute anstellen, die schlau und fähig genug wären, diese Welt zu manipulieren." Leute wie dich, fügte er in Gedanken hinzu. „Wir sind übrigens da!" Xander hielt seinen Transponder an das Lesegerät, öffnete die Tür neben dem Schild mit der Aufschrift 'Kontrollraum 7b, Sektion H-J' und trat ein.

„Wow, das ist ja cool", machte der Junge, als Xander den Hauptschalter aktiviert hatte. Bei dem faszinierten Gesichtsausdruck des Neulings musste er grinsen. Auch er hatte anfangs überwältigt vor all den Knöpfen und Hebeln gestanden, die man eigentlich nur selten benötigte, da das Herzstück des Raumes zwei unscheinbare Sessel waren, die mit zahlreichen Kabeln an der Maschine befestigt waren. Diese dienten vor allem der Überwachung der Körperfunktionen und der Zufuhr mit Strom. Die wahre Meisterleistung des Unternehmens, das seit wenigen Jahren die ‚Reise in die eigenen Träume' anbot, lag auf den Sesseln und wartete geduldig auf ihren Einsatz.

„Durch diesen Kontrollraum können wir den Hafen betreten und auch wieder verlassen." Xander tippte ein paar Befehle in den Computer ein und hielt dann seinen Transponder vor eine Schaltfläche, bis diese mit einem kurzen Piepton bestätigte, dass der Datentransfer abgeschlossen war. Dann bat er den Neuen, es ihm gleichzutun. Auch bei ihm kam nach einigen Augenblicken der Piepton. Xander wies den Blonden an, sich auf einem der Sessel niederzulassen, schnallte ihn an und verkabelte ihn, während er mit seiner Erklärung fortfuhr.

„Wir arbeiten manchmal in Zweierteams und manchmal allein, je nachdem wer gerade Dienst hat oder was anliegt. Ich nehme dich heute mit zu einer meiner Lieblingskundinnen, um zu prüfen, ob alles okay ist. Sie hat sich vor ein paar Wochen in den künstlichen Schlaf versetzen lassen, da bei ihr eine schlimme Krankheit diagnostiziert wurde und sie halbseitig gelähmt ist. Sie hat das Rundum-Sorglos-Paket abgeschlossen, das es ihr ermöglicht, bis zu ihrem Tod im Elysium zu bleiben. Und wir schauen ab und zu Mal vorbei und prüfen, wie es ihr geht und ob alles funktioniert."

„Und wo ist die Frau jetzt? Gibt es sowas wie Schlafräume?" Xander setzte sich ebenfalls auf einen Sessel und verkabelte sich nun selbst.

„Auch", bestätigte er und zog eine Schlaufe fest, die ihn in der nächsten Phase an Ort und Stelle halten und einen Absturz verhindern würde. „Wir haben Schlafräume, für alle Kunden, die länger im Elysium Haven bleiben wollen und all ihr Hab und Gut verkauft haben, um sich solch einen Platz auch leisten zu können. Denn die Technik und Lebenserhaltung der Menschen muss auch während des Schlafes sichergestellt werden. Flüssignahrung, Körperfunktionskontrolle und nicht zu vergessen die Herstellung der Kapseln, in denen die Menschen hängen."

„Was meinst du mit hängen? Ich dachte, die schlafen?"
„Es gibt diejenigen, die nur kurz in die Traumwelt kommen. Um mal abzuschalten, etwas zu erleben oder ihre Partner zu betrügen." Bei den Worten wurden die Augen des Jungen groß, doch er nickte nur und ließ Xander weiter fortfahren.

„Diese Kunden nutzen unsere normalen Liegemöglichkeiten. Betten, wenn du so willst. Unsere Ärzte überwachen sie und leiten nach der vereinbarten Zeit das Aufwachen wieder ein. Die, welche länger bleiben, müssen hängen, weil sie sich sonst irgendwann wundliegen. So wie damals die Menschen in den Pflegeheimen, um die sich irgendwann keiner mehr gekümmert hat. Viele von ihnen sind gestorben, weil sie niemand bewegt hat und sie Druckgeschwüre, Thrombose, Osteoporose, Verstopfung, Herzinsuffizient oder eine Lungenentzündung bekommen haben."

„Alles nur durch das Liegen?" Der Junge schaute seinen Ausbilder ungläubig an. „Nicht ausschließlich", gab Xander zu. „Aber vieles davon ist durch mangelnde Bewegung bedingt. Wenn du deinem Körper signalisierst, dass du ihn nicht mehr brauchst, dann glaubt er das irgendwann und schaltet sich ab. Wie die Batterie von alten Autos. Wenn du nicht fährst, entladen sie sich irgendwann. Setz den Helm auf!"

Der Junge griff nach dem Helm, der bis jetzt auf seinem Schoß gelegen hatte und setzte ihn sich auf den Kopf. Xander tat es ihm gleich und zeigte ihm, wie er die Position korrekt einstellte. Dann schloss er die Schnallen. „So Rekrut: Ich brauche noch dein Alter, Größe und Gewicht", sagte Xander, während er die Parameter in einer Bedienleiste am Sessel eingab. „Achtzehn, 1,79m und 81 Kilogramm", antwortete der Blonde. „Und ich heiße.." „Welche Blutgruppe hast du?", unterbrach Xander ihn. „A positiv", kam die Antwort. „Warum ist das wichtig?"

„Routinefragen", sagte Xander ausweichend und drückte ein paar Knöpfe. „Bist du bereit? Nein? Dann kann es ja losgehen!"

Start - Dream - RepeatWhere stories live. Discover now