3 | Sheila O'Hara

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Xander stieg zuerst über die Schwelle der Tür und trat dahinter auf weich aussehenden, grünen Boden. Sobald beide Füße den Traum betreten, und er hinter Renard die Türe verschlossen hatte, breitete sich vor ihnen in rasender Geschwindigkeit die Welt der Sheila O'Hara aus. Xander setzte einen Fuß vor den anderen und steuerte auf einen leicht ausgetretenen Pfad zu, der sich im sanften Schwung einen kleinen Hügel zu einer alten Farm hinabwand, die vor ein paar Sekunden erst am Horizont erschienen war.

Staunend beobachtete der junge Rekrut, wie sich sattes Grün aus Bäumen und Pflanzen, sowie majestätische Hügel rechts und links von ihnen wie Rollrasen über den Horizont legten und immer weitere Gebilde und Bilder formten, bis schließlich das gesamte Sichtfeld der jungen Männer mit einer wunderschönen Landschaft ausgefüllt war.

„Wow, das ist unglaublich. Wie geht sowas?"
„Bits und Bytes", sagte Xander unbeeindruckt. „Ich sagte ja schon, dass unser Gehirn ähnlich wie ein Computer mit elektromagnetischen Impulsen arbeitet. Die Helme, die wir tragen, zapfen diese elektromagnetischen Bahnen des Gehirns an und senden eigene Impulse, um diese Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Alles, was du dir ausdenken kannst, entsteht simultan sowohl in dem Kopf der Träumenden als auch als Kopie in unseren Datennetzwerken. Dadurch können auch du und ich uns quasi in den Gedanken oder Träumen der anderen bewegen."

„Ja, das habe ich verstanden", erklärte der Junge nun mutiger. „Aber ist das nicht auch gefährlich? Immerhin könnte der Träumende uns auch angreifen oder uns Schaden zufügen, oder."

„Noch ein Grund, warum du zu deinen Kunden und Kundinnen immer freundlich sein solltest", grinste Xander und sah Sheila bereits von weitem, als sie auf das Haus zukamen, das ihn immer wieder sehr an das Kolonialhaus aus dem sehr alten Film „Vom Winde verweht" erinnerte. Seine Mutter hatte diesen Film geliebt und er hatte ihn oft mit ihr geschaut, bevor...

„Ist sie das?" Sie waren gerade an der von wildem Unkraut eingerahmten Gartenpforte angekommen, als Renard seine Gedanken unterbrach und eine alte Frau, begrüßend mit dem Kopf nickend, auf sie zu schritt. Ein kleines Mädchen auf einer Schaukel, die an langen Seilen einer uralten Eiche hing, schaute neugierig zu dem Besuch herüber.

Erwartungsvoll blickte der Junge an Xanders Seite den Reiseleiter an, der aufmunternd nickte. Der Blonde nahm all seinen Mut zusammen und ging mit ausgestreckter Hand auf die alte Frau zu. „Einen wunderschönen guten Tag, Mrs. O'Hara. Es freut mich sehr, Sie kennen lernen zu dürfen. Mein Name ist..."

„Xander!" Das Mädchen, das eben noch auf der Schaukel gesessen hatte, sprang mit einem großen Satz von dieser hinab und kam hüpfend auf den Reiseleiter und seine Begleitung zu. „Wie schön, dass du mich mal wieder besuchen kommst. Es muss schon eine halbe Ewigkeit her sein. Hast du mich etwa vergessen?"

Xander lachte, als er das fröhliche Mädchen ansah und dann wie einen alten Freund in seine Arme schloss. „Ich war doch erst vor zehn Tagen hier", korrigierte der Reiseleiter. „Für dich fühlt sich die Zeit nur viel länger an, weil du hier draußen ganz allein bist."

„Ich bin doch nicht allein", sagte Sheila und deutete auf die alte Frau, die immer noch schweigend und lächelnd vor dem Rekruten stand, dem die Situation sichtbar unangenehm war. „Wen hast du mir denn da mitgebracht?", fragte das Mädchen und begutachtete den Jungen ausgiebig.

„Er ist ein neuer Recruit, und ich habe mir einen kleinen Spaß mit ihm erlaubt. Er dachte wohl, dass dein Oma-Avatar du bist."

„Warum sollte man, wenn man alles sein kann, das sein, was man schon gewesen ist und nicht das, was man gerne wäre?", fragte das Mädchen augenzwinkernd.

"Sei nicht so streng mit ihm, es ist sein erster Tag", grinste Xander und stellte dann Sheila bei Renard vor.

"Renard also", stellte das Mädchen fest und ging um ihn herum, als sei er ihr neues Spielzeug. "Wird er nun zu mir kommen?", fragte sie fast traurig. Xander ging in die Knie, um mit der 93-Jährigen auf Augenhöhe zu sprechen.

"Hallo? Um nichts in der Welt würde ich die Besuche bei dir abgeben. Du zauberst mir jedes Mal ein Lächeln ins Gesicht. Wenn du doch nur siebzig Jahre jünger wärst", lächelte er charmant. Sheila kicherte vergnügt. Dann wurde sie plötzlich ernst.

"Hast du was von Vivien gehört? Hat sie mich besucht?" Die Augen des kleinen Mädchens glitzerten voller Hoffung auf eine positive Antwort. Die KI, welche die Welt um sie herum und die Avatare geschaffen hatte, verstand es nur zu gut, aus den Worten der Frau auch optische Impulse in die Welt mit einzubauen. Und diesen glasigen Augen konnte Xander nun einfach nicht die Wahrheit sagen.

"Oh ja, ich habe heute morgen den Anruf aus der Station erhalten, dass Vivien da war und dich besucht hat. Deswegen bin ich auch hier. Ich soll dich grüßen und dir sagen, dass deine Kinder und Enkelkinder dich vermissen."

"Was ist mit Georgi? Kann er inzwischen laufen?", fragte Sheila und begann aufgeregt mit den Füßen zu wippen. Xander schluckte und zwang sich zu einem Lächeln.

„Ich bin mir sicher, er übt täglich und wird jeden Tag besser. Und nun zu dir. Ist alles okay hier, kann ich dir was Gutes tun? Brauchst du etwas oder soll ich etwas ausrichten?"

Sheila nickte und beugte sich dann vor, um Xander etwas ins Ohr zu flüstern. „Sag Vivien, dass ich sie liebe und es mir leid tut, dass ich nicht mehr bei ihr sein kann. Ich weiß, dass sie traurig ist, dass ich diese Entscheidung getroffen habe. Aber ich liebe sie trotzdem noch und denke jede Minute an meine Familie." Eine Träne lief dem Mädchen über die Wange.

Xander nickte und versuchte seine eigene Trauer nicht nach außen zu lassen. Er wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, für diese perfekte Traumwelt verlassen worden zu sein. Aber er verstand auch, was Menschen wie Sheila dazu bewegte, sich hier aufhalten zu wollen und den Schmerzen der realen Welt zu entfliehen. Also nahm sie ihm das Versprechen ab, das er nie würde erfüllen können.

Nachdem sie sich noch eine Weile unterhalten hatten, sah Xander auf die Ziffern an seinem Handgelenk. Sie mussten wieder zurück in die Oasis und verabschieden sich von Sheila.
Auf dem Weg zu der Tür, die oben auf dem kleinen Berg in einen großen Stein eingelassen war, nutzte der Rekruit die Chance, Xander weiter auszufragen.

„Kommst du eigentlich in jeden Traum rein? Brauchst du dafür nur den richtigen Schlüsselcode?" Xander schüttelte den Kopf.

„Nein, es gibt ein paar klare Regeln. Ich will dich nicht mit Details langweilen, denn kurz gesagt, sind die Traumleiter nach Gruppen aufgeteilt. Man kommt also nur in die Träume derjenigen Menschen, die einem zugewiesen worden sind. Ich bin zum Beispiel zuständig für alle Kunden und Kundinnen, dessen Nachname mit „H" beginnt. Meine Kollegen Sassy betreut alle Nachnamen mit „J". Dabei vertreten wir uns gegenseitig, wenn einer mal Urlaub hat, oder krank ist. Wenn du bei uns anfängst, kann es also sein, dass du einen ganz anderen Buchstaben zugeteilt wirst."

„Achso?" Xander meinte, etwas Enttäuschung in dem kleinen Wort seines Rekruten zu hören, konnte sich aber auch täuschen. Die nächste Frage allerdings weckte seine Aufmerksamkeit. „Hast du auch ein paar bekannte Persönlichkeiten unter deinen Kunden? Ich meine, das wäre doch sicher spannend, oder?"

Sie waren fast am Felsen angekommen, als Xander stehen blieb und sich Renard zuwandte. „Die Vertraulichkeit der Daten, zu denen auch die Identität der Kunden gehört, sind unser höchstes Gut und müssen jederzeit mit größter Sorgfalt behandelt werden. Ich kann also nicht aus dem Nähkästchen plaudern und das solltest du auch nicht tun, wenn du hier anfangen willst." Mit dieser einstudierten Wiederholung des Lehrhandbuches warf er dem Jungspund einen warnenden Blick zu und legte dann die letzten zwei Meter zur Tür zurück. Mit einem klickenden Geräusch schwang sie auf, als Xander seinen Transponder daran hielt.

Ein letztes Mal warf er einen Blick zurück zu dem Haus, von dem er wusste, das Sheila davor schaukelte. Oft würde er sie nicht mehr besuchen können. Ihre Familie in der realen Welt hatte längst aufgehört, die alte Frau zu besuchen. Sie hatten sich verabschiedet, an dem Tag, als sie verkündet hatte, ins Elysium zu gehen. Und von dort würde sie auch nie wieder zurückkehren.

Start - Dream - RepeatWhere stories live. Discover now