Kapitel 4.2

43 17 18
                                    

Ich wusste nicht, wie lange ich dort schon saß. Alleine in einem dunklen Raum, wo die einzige Lichtquelle der Schlitz in der Tür ist, durch den ich nichts weiter sehen konnte als eine weiße Wand. Sie hatte noch nicht mal ein Muster, das man sich hätte ansehen können. Weiß. Nur auf hochglanz poliertes Weiß.

Mein Kopf knickte leicht zur Seite und berührte die kalte Wand, die im Gegensatz zu der Wand im Flur unnatürlich rau war. Ich konnte mich nicht richtig anlehnen, ohne, dass ich mir meine Wange aufschürfte.

Ich zischte, als ich meine Beine langsam ausstreckte, um eine gemütlichere Position zu bekommen. Ein glühendes Messer, das immer wieder auf mich einsticht. Eiskaltes Wasser hinterher. Und wieder von vorne. Immer wieder, bis es unerträglich wurde.

Meine Beine verkrampften sich und ich biss mir auf die Lippe, bis ich Blut schmeckte. Unter Schmerzen schüttelte ich meine Beine, streckte sie und zog sie wieder zu mir heran. Doch es hörte nicht auf. Die Schmerzen blieben- und wurden immer schlimmer.

Es war wie in einem Albtraum. Womit habe ich es verdient, hier zu sitzen und mit höllischen Schmerzen zu kämpfen? Was habe ich getan? Warum kann ich nicht einfach nach Hause? Wo bin ich hier überhaupt? Was hat dieser Mann mit mir gemacht?!

Langsam liefen Tränen meine Wange herab und tropften auf den rauen Steinboden. Pure Verzweiflung übermannte mich. Ich fing an zu schreien. Wieso? Wieso?! Ich will einfach nur nach Hause zu meinen Eltern und meinem Bruder.

Plötzlich ertönte ein lauter Schlag im Flur. Ich verstummte und riss die Augen auf. Mein Blick war auf die eiserne Tür gerichtet. Das Geräusch kam immer näher. Schritte, viele Schritte, die den Flur entlang liefen und vor meiner Tür stehen blieben.

Der Mechanismus wurde getätigt und die Tür schwang auf. Zum Vorschein kamen erneut Männer und Frauen in weißen Anzügen. Es waren ganze sechs von ihnen. Sie standen in einer Zweierreihe vor der Tür, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

Auf einmal traten die vordersten beiden in meine Zelle ein und stellten sich neben die Tür. Die rechte Person, eine blondhaarige Frau mit schönen blauen Augen, schaute mich immer wieder ängstlich an. Sie musterte mich von oben bis unten. Ich fühlte mich unwohl. Es fühlte sich komisch an, so angestarrt zu werden, als wäre man ein gefährliches Tier im Zoo, dass einen gleich anspringt und frisst.

Wie aus Reflex schob ich mir meine Haare vor mein Gesicht und zog meine Beine wieder zu mir, um mich vor ihren Blicken schützen zu können.

Nun traten auch die beiden Männer, die jetzt vor der Tür standen, zurseite und stellten sich zu mir und den anderen in die Zelle.

Langsam blickte ich auf. Doch es wäre mir lieber, ich hätte es nicht getan. Wie in einer Schockstarre, starrte ich die beiden Männer an, die nun vor der Tür standen. Etwas befand sich in ihrer Mitte. Nein, nicht etwas, sondern jemand.

Ein stummer Schrei kam über meine Lippen und ich riss meine Augen auf, als ich sah, wen sie dort bei sich trugen. Ich sprang ruckartig auf und presste mich an die raue Steinwand hinter mir. Meine Atmung ging schnell und flach, meine Arme und Beine zitterten.

Es war ein Mädchen. Ein Mädchen mit schwarzen Haaren und roten Strähnchen. Ihre Augen waren geschlossen. Sie hing schlaff in den Griffen der Männer in den weißen Uniformen und bewegte sich kein Stück.
Nuriel.

,,Xenia? Alles ok?" Liv war von ihrem Stuhl aufgestanden und auf mich zugekommen. In ihrem Blick spiegelte sich Sorge, als sie mich musterte.

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich wohl in Gedanken gewesen sein musste. Und das vermutlich länger als normalerweise. Ich erschauderte, als ich an diesen Tag dachte. Es war der erste Tag im Labor gewesen- oder war es schon der zweite oder sogar der dritte? So genau konnte ich das nicht sagen.

Aber eines weiß ich. Diesen Anblick würde ich niemals mehr aus meinem Kopf bekommen. Genauso wenig wie die anderen Momente, die diesem stark ähnelten.

All diese Momente, die sich in meinem Kopf fest verankert hatten und sich nicht mehr lösen ließen, taten so unfassbar weh. Keine dieser Erinnerungen war eine schöne. Eher im Gegenteil. Jede war geprägt von Angst, Verzweiflung und unendlichen Schmerzen. Die einzig annähernd schönen Zeiten waren die Momente, in denen Nuriel und ich uns stumm in den Armen lagen und uns Trost gespendet hatten.

Ich vermisste sie. So unfassbar sehr. Sie war die einzige Person in den Laboren, die freundlich zu mir war und die mich lieb hatte. Andersherum genauso. Wir waren immer füreinander da. Wenn es Nachts kalt wurde, setzte Nuriel ihre letzten Kräfte ein, um uns ein wenig Wärme zu spenden und ich hielt sie fest in meinen Armen.

Jedesmal, wenn die uniformierten Mitarbeiter des Doktors Nuriel mitnahmen, plagte mich die Angst. Angst davor, dass sie diesesmal vielleicht gar nicht mehr zurückkommt und ich nur ihre Leiche sehen kann, die am Ende achtlos irgendwo vergraben wird.

Plötzlich wurde mir schwindelig und ich wankte. Liv griff schnell nach mir und stützte mich, während Daphne in einem kleinen Nebenraum verschwand und schon wenig später wieder zurückkam.

Ich bekam nur am Rande mit, wie sie mit den anderen beiden sprach und mich daraufhin in das Zimmer brachte, aus dem sie gekommen war. Ihre Stimme klang wie ein rauschen. Keine klaren Worte drangen zu mir, nur einzelne Laute und unverständliche Worte. Die Kraft, sie zu entziffern, hatte ich nicht.
Diese plötzliche Angst und die Panik hatten meinen Verstand vernebelt. Ich konnte nur noch an eine Sache denken.

Nuriel.

Was, wenn sie die Explosion gar nicht überlebt hatte? Ich hatte sie schließlich seit dem nicht mehr gesehen und auch nichts von ihr gehört. Was, wenn sie doch überlebt hatte, aber dem Militär zum Opfer gefallen war? Hatte ich ihre Todesanzeige in den hundert anderen übersehen, die täglich Abends als große Atraktion gezeigt wurden? Wurde ihr Name genannt?

Ich fing stärker an zu zittern. Der Gedanke, dass Nuriel vielleicht nicht mehr lebt, raubte mir den Atem und den Verstand. Sie durfte einfach nicht tot sein! Ich würde es nicht ertragen, sie zu verlieren. Nicht sie. Nicht das Mädchen, das für mich wie zu einer Schwester wurde und immer auf mich aufgepasst hat, wenn es mir schlecht ging. Nicht die Person, die mich in ihren Armen gehalten hatte, als ich Panik bekam oder vor Schmerzen schrie.
Nicht das Mädchen, das die einzige Person war, die mich wirklich liebte und mich so gut kannte, wie kein anderer.

,,Möchtest du reden?" Daphnes tiefe Stimme klang mit einem mal ganz sanft an meine Ohren, als sie mich auf etwas weichem bettete. Es war eine alte Matratze, die an einigen Stellen löcher hatte. Darüber war eine weiche Decke in hellblau gelegt worden, damit es einigermaßen gemütlich war.

Ich sah sie dankbar an, schüttelte dann jedoch leicht den Kopf. Meine Augenlieder schlossen sich langsam und ich bemühte mich, sie offen zu halten.

,,Ich verstehe, du hast viel durchgemacht. Aber jetzt versuch zu schlafen. Morgen erzählst du uns dann alles, ja?"

Meine Augenlieder fielen nun endgültig zu. Ich war viel zu müde. In den letzten Tagen war zu viel passiert, als das ich es in der kurzen Zeit verarbeiten konnte.

Mein Kopf knickte zur Steite und ich rollte mich ein wenig zusammen, um endlich in Ruhe schlafen zu können. Ich hörte noch, wie Daphne sich entfernte und aus dem Raum trat. Doch plötzlich blieb sie stehen.

Es war ein leises, zartes Flüstern. Und doch verstand ich jedes Wort.

,,Du erinnerst mich an sie"

~𝕏𝕖𝕟𝕚𝕒 | 𝔼𝕚𝕟 𝕃𝕖𝕓𝕖𝕟 𝕒𝕝𝕤 𝕄𝕦𝕥𝕒𝕟𝕥~Where stories live. Discover now