9. Part - Tag 6

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Addie hat sich bald wieder an die Arbeit gemacht. Aber erst, als sie sich zu 100 Prozent sicher sein konnte, dass es mir wieder einigermaßen gut geht. Nun sitzt sie an ihrem Schreibtisch. Ihre Worte haben Eindruck hinterlassen, soviel steht fest. Zumindest für den Moment. Wie lange dieser Moment anhalten wird, weiß ich nicht. Aber es spielt auch keine große Rolle. Irgendwann werden mich die Zweifel eh wieder einholen und ich werde in Frage stellen, was eigentlich längst klar sein sollte. Addies Worte können mich aufbauen, mich aus meinem Sumpf herausziehen - aber meine Gedanken ziehen mich immer wieder rein. Wie lange wird dieses Spiel noch so weitergehen, bis ich endgültig versinken werde?
Ein bisschen verloren starre ich auf den Bildschirm meines Handys, bis eine Bewegung durch den Raum geht.
,,Hey, Rachel!",sagt plötzlich eine Stimme, Coopers Stimme. Er stellt etwas zu Essen auf den Tisch vor mich und setzt sich neben mich. Ungefragt. Es wird also ein Smalltalk. Ein sehr einseitiger, schätze ich.
,,Jede Dissoziation verbraucht Unmengen an Kraft. Das Verkrampfen, das Anspannen, dass Zittern. Deswegen ist es wichtig, dass du irgendwas gibst, dass er diese Kraft aufwenden kann. Es ist wichtig, dass du das tust. Also bitte ich dich, iss etwas." Addison hatte also dieses Gespräch mit Cooper bereits. Er weiß, dass ich heute morgen kaum etwas gegessen habe.
,,Ich lass dich auch allein.",sagt er, als er mein Zögern bemerkt. Er sagt noch irgendwas zu Addie und geht dann wirklich wieder. Scheiße, und was mache ich jetzt?

,,Und weißt du, was sie dann getan hat? Sie hat einfach geschwiegen!" Die Runde lacht, als Ana erzählt, was gerade im Unterricht passiert ist. Auch ich lache, aber eigentlich habe ich gar nicht zugehört. Ich beobachte die Mädels, die hier im Kreis mit uns stehen, zuhören, was Ana erzählt und essen. Ja, sie essen. Sie stehen hier, wenige Meter weg von einer Halle voller Menschen und haben die Ruhe, zu essen. Unglaublich. Aber irgendwie ist das auch beneidenswert. Ich beobachte sie weiter, was sie essen und wie sie dabei aussehen.
,,Rachel!" Ich sehe zu Ana. Sie lächelt und nickt mit dem Kopf Richtung Tür des Lehrerzimmers. Ich folge ihrem Nicken, tatsächlich streckt Ms. Walsh ihren Kopf heraus und lächelt breit - wie immer. 
,,Ich hab habs dabei, ich hab es nicht vergessen!",sagt sie und drückt mir eine DVD in die Hand.
,,Wenn du Fragen hast, kannst du dich, wie immer, an mich wenden, ja? Viel Erfolg bei der Recherche für die Präsentation.",lächelt sie.
,,Dankeschön!" Sie lächelt noch einmal, verschwindet dann wieder rein. Ich betrachte den Film, bevor ich ihn verschwinden lasse.  Essstörungen - Ursache einer Gesellschaft

Ich schaffe es nicht zu essen. Je mehr ich mich zwingen möchte, desto mehr blockiert mein Körper. Ich vertröste Addie, dass ich nur kurz ein paar Schritte gehe, und dann etwas essen werde. Aber weiß sie so gut wie ich, dass das nie passieren wird?
Die Zeit vergeht immer langsamer, ich bewege mich durch die gesamte Oceanside und starre aus jedem Fenster, welches ich finden kann. Warum ich das tue, weiß ich nicht. Aber es beruhigt mich. Ich spüre, wie jedes tiefe Durchatmen meinen Brustkorb weitet und lockert. Ich fühle so stark, dass sich das intensiver anfühlt. Der Druck ist weg.

Die zwei Stunden haben sich endlos angefühlt. Als Addison vor mir steht und ankündigt, dass wir nach Hause fahren, atme ich wieder durch. Erleichtert. Gegessen habe ich nicht, aber noch ist der Tag nicht vorbei und noch ist mein Körper okay damit. Wir verabschieden uns von denen, die in der Küche stehen und treffen auch Jake, der uns begleitet. Im Auto überkommt mich die Müdigkeit, die ich nach der Dissoziation verdrängt hatte. Sie schleicht sich in den Vordergrund und bettelt nach Beachtung. Die sie bekommt, aber nicht von mir.
,,Rachel ist müde.",stellt Addison fest, als ich gähne. Jake sieht in den Rückspiegel. Ich sehe nur seine Augen. Aber sein Blick ist ausdrucksstark.
,,Das kann ich mir denken." Wieder sieht er zu mir. Er sagt noch etwas, aber das verstehe ich kaum. Meine Anwesenheit beschränkt sich immer mehr auf mein körperliches Dasein. Jakes Blick spüre ich dennoch. Durch das Klingeln meines Handys kommt auch wieder ein kleiner Strahl Realität in die dunkle Kammer meiner Abwesenheit. Es ist Annic.
,,Ich freue mich sehr, dass wir vorhin sprechen konnten! Im Volleyball wirst du übrigens sehr vermisst." Ich lächle. Ich glaube ihr nicht auf Anhieb. Die Tatsache, dass das Leben überall weiterging, nur nicht bei mir, hatte schon immer irgendwie  Gefühle ausgelöst, die ich nicht einordnen konnte. Nicht, dass ich gewollt hätte, dass sich die Leben meiner Mitmenschen ändern würden. Aber einige Welten drehten sich weiter, als sei nie was passiert. Und das hat mich stutzig gemacht. Was Annic angeht, denke ich, dass sich ihre Welt schon vorher anders drehte. Ich kenne sie zu gut, und weiß, dass sie schon nach meinem Rückzug aus dem Volleyball ahnte, dass was im Gange ist. Aber ich weiß auch, warum sie so zurückhaltend war. Und genauso weiß ich, wie sie die Infos bewegen, die sie heute bekommen hat. Und ich schätze, sie wird sich fragen, warum sie nichts unternommen hat. Und auch ich werde mich fragen warum ich nicht von Anfang an ihre Hilfe gesucht habe, sondern mich zurückzog und verschwand. Obwohl ich eigentlich wusste, dass Annic die jenige war, die mir zu der Zeit am nächsten stand. Ich werde mich fragen, warum ich die Bewegung des Drehens meiner Welt allen entgegensetzte.
,,Brain ist weird, full of fear, you don't know what I know. Tripping up, falling down, climbing through my halo. Oh, counting cracks in the celing. Wide awake while I'm dreaming. Changing gear, must admit I've been overthinking. Sorry Babe, I'm ashamed that you caught me sinking. Hey, I'm just trappend in the tide and you're so different than I" Ich habe einen Ohrwurm, aber merkwürdigerweise passt er gerade ziemlich gut. Mein Gehirn dreht sich. Ich lehne den Kopf an und schaue aus dem Fenster. Draussen zieht alles einfach so an mir vorbei...

Phönix aus der AscheWhere stories live. Discover now