Epilog - Tag 65 nach der Kindheit

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Natürlich! Wie hatte sie es nicht vorher bemerken können? Die beiden hatten die gleichen Augen, die gleiche Nase, die gleiche Ausstrahlung. „Würdest du
mich vielleicht begleiten? Ich bin allein hier und vielleicht könnten wir uns noch ein wenig unterhalten."

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Sein Grab war unscheinbar, das war das einzige Wort, das Annie zu dem Anblick einfiel. Eines von vielen in einer von vielen Reihen auf dem Stadtfriedhof. Es war komplett mit niedrigem Buchsbaum überzogen, wahrscheinlich um Aufwand und Geld zu sparen – für sie war er schon lange tot, lange Jahre. Die Daten auf dem weißem Marmor, dunkel eingraviert unter seinem Namen, kamen ihr so surreal vor.

Jean-Roman Belcourt,
*09.07.1969
18.08.1987.

Sie wusste nicht einmal, dass seine Familie französisch war, er hatte seinen Namen immer deutsch ausgesprochen, also hatte sie es auch getan. Annie wusste, dass Emma neben ihr mit ihr redete, doch sie bekam es nur am Rande mit. Ihre Ohren schienen zu summen und die Ränder ihres Sichtfeldes wurden schwarz – es war einfach zu viel. Er war echt.

Er hatte gelebt und er war gestorben. Er hatte lange vor ihr ein Leben gehabt, mit Familie und Freunden und Lieben und Leiden. Die Luft schien immer knapper zu werden, ihre Brust immer enger. Sein Grab zu sehen...

„...Um uns gekümmert, als unsere Eltern es nicht mehr konnten. Unser Vater hatte psychische Leiden, die ihm letztendlich – aber viel später – das Leben gekostet haben, und unsere Mutter war plötzlich todkrank. Es war eine schwere Zeit für uns", sagte die Brünette gerade, als es Annie gelang, wieder in die Realität zurückzukehren. „Woran ist eure Mutter denn gestorben?", hakte Annie plötzlich nach. Das hier war womöglich ihre einzige Gelegenheit zu versuchen, die Bruchstücke von Romans Vergangenheit zusammen zu puzzeln, zumindest einen Teil von ihnen. Erstaunlicherweise verzog sich Emmas schmaler Mund zu einem Lächeln. „Sie starb nicht. Alles deutete darauf hin, dass ihre Tage gezählt waren, doch plötzlich änderte sich alles; die Therapie schlug an", erzählte sie. „Meine Kinder können mit ihrer Großmutter spielen." Eine Pause entstand, Emma betrachtete scheinbar gedankenverloren den Grabstein, doch Annie erkannte, dass ihre Augen unfokussiert waren. Emma war in Gedanken nicht mehr neben Annie, sondern in ihrer Kindheit. Es war erstaunlich, dachte Annie, wie ähnlich die beiden sich bei genauerer Betrachtung sahen. Die Form ihres Kopfes und der Wangenknochen, der dichte Wimpernkranz; ihre Verwandtschaft war unverkennbar, auch wenn Emmas Haut bereits von feinen Furchen durchzogen war. Die Frau schüttelte den Kopf und murmelte leise: „Du gehörst einem anderen Jahrhundert an, unglaublich." Annie hatte nicht das Gefühl, dass die Worte dafür bestimmt waren, von ihr gehört zu werden, also schwieg sie.

Vorsichtig umrundete Romans jüngere Schwester die Grabstätte und wischte ein paar Nadeln, die von einer der umliegenden Tannen auf den Grabstein gerieselt sein mussten, herunter. Sie tat es sanft, mit einem liebevollen Ausdruck in den Augen, der Annie das Gefühl gab, ein Eindringling zu sein. Doch dieser Moment war schnell vorbei, und Emma wandte sich wieder direkt an sie. „Unser großer Bruder konnte leider nicht mehr miterleben, wie Maman gesund wurde. Sie sagten, es wäre Selbstmord gewesen, er wäre vom Kirchturm gesprungen. Nachts, als wir alle schliefen, circa Mitternacht." Sie seufzte. „Keiner
von uns glaubte daran, sein Körper war zu... Nur sein Genick war gebrochen. Keine anderen Wunden. Aber was rede ich", unterbrach sie sich selbst und lachte leise. „Es bringt nichts mehr und ich belaste dich nur mit meinem Gerede." Annie wollte protestieren, doch Emma wehrte sofort mit einer Geste ab, als sie den Mund öffnete.
„Du musst gar nichts anderes behaupten." Sie warf einen Blick auf
ihre Armbanduhr und ein erstaunter Ausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Schon 12 Uhr! Ich muss jetzt aber wirklich weiter. Vielen Dank, mein Kind, das hättest du nicht tun brauchen." Sie tätschelte Annies Wange, beinahe großmütterlich. Annie unterdrückte den Impuls, ihr zu danken.„Ich wünsche dir alles Gute, Andria", versprach sie grinsend, das gleiche Grinsen.

Unwillkürlich lächelte Annie breit zurück und gab ihr ihre besten
Wünsche. „Es war schön, dich kennenzulernen", fügte sie hinzu. „Man sieht sich im Leben immer zwei Mal", zwinkerte die Dame und ging ein paar Schritte rückwärts. „Vielleicht werden wir uns noch einmal begegnen." Und damit kehrte sie ihr den Rücken zu und verschwand. Annie sah ihr nachdenklich hinterher. Sie wusste nicht, ob es gut oder schlecht war, eine seiner drei kleinen Schwestern getroffen zu haben. Einige ihrer Fragen wurden beantwortet, doch wiederum neue wurden aufgeworfen. Roman würde, so gut sie ihn auch kannte, wohl immer ein Mysterium für sie sein. Sie sah zurück zum Grabstein, warf einen Blick in die Richtung, in die Emma verschwunden war. Die Frau war verschwunden. Annie ließ sich auf dem Kieselweg nieder und erlaubte sich endlich, zu weinen. Eine Träne rollte ihre Wange hinab, dann die zweite. Irgendwie trotzdem wütend auf sich selbst wischte sie sich energisch über das Gesicht, in das der Wind ihre Haare peitschen ließ. Einige Vögel stoben mit lauten Gekrächze auf. Reflexartig schaute Annie sich nach ihnen um, doch sie waren schon fortgeflogen. Langsam ließ sie ihren Kopf auf ihre Knie sinken und zog diese nah an sich heran. Sie musste einen seltsamen Anblick bieten – eine junge Frau, zusammengekauert und weinend vor einem viel zu altem Grab für jemanden, den sie kennen hätte können. Doch es war ihr egal. Dieser Friedhof, wie alle anderen auch, war für die Lebenden, für die Hinterbliebenen – und das war sie doch irgendwie auch. Roman war ihre Familie gewesen, er war ihre Kindheit gewesen.

Annie liebte Roman aus ganzem Herzen, als kleines Mädchen genauso wie jetzt. Und er hatte sie geliebt, wie eine vierte kleine Schwester. Sie waren ein Teil des jeweils anderen gewesen, ein bedeutender Teil, und auch wenn sie Roman zu Lebzeiten nicht gekannt hatte, war Annie eins klar:

Sie hatte das Recht, um ihren Roman zu trauern.

Midnight SongWhere stories live. Discover now