Ich schaute Anni an, die mir die ganze Zeit aufmerksam zugehört hatte, aber ihre Miene blieb verschlossen und ließ nichts erkennen. Keine Gefühlsregung, kein Zucken, sie reagierte überhaupt nicht.


Anni

Ich beobachtete seine Mimik genau, nicht das kleinsten Muskelzucken in seinem Gesicht, entging mir. Auch nicht die Falte zwischen seinen Augenbrauen, die sich immer wieder minimal zusammenzog, während er sprach. Seine Mundpartie, war angespannt, verriet fast noch mehr, als seine Augen. Ich fühlte was er sagte, aber ich bemühte mich es nicht zu nah an mich heran und keinerlei Emotionen in mein Gesicht zu lassen.

„Und als du dann vor mir standst, war ich noch mehr verwirrt und überfordert und dann hast du mich sogar mitgenommen auf diese Wanderung. Ich war so fasziniert davon, dich reden und lachen zu hören, so viele Dinge und Einzelheiten, die ich noch nicht kannte, an dir zu entdecken. Monatelang hatte ich mir genau das ausgemalt und dich so nah um mich zu haben, das hat mich echt umgehauen. Es war ganz anders, als ich mir das vorgestellt habe. Du warst anders und irgendwie auch wieder überhaupt nicht. Der ganze Tag war so wunderschön und ich hab mir die ganze Zeit gewünscht, dass er nicht aufhört. Als wir da oben am Gipfel saßen, musste ich die ganze Zeit an eine bestimmte Email von dir denken. Du hast sie mir Monate davor geschrieben. Es war..." Er zückte sein Handy, tippte herum und begann dann vorzulesen.

Hi Mikey,

ich weiß das Leben ist momentan manchmal wirklich bedrückend und eng. Ich fühle mich auch eingesperrt in meiner kleinen Kammer. Es ist ständig grau in London. Also nicht, dass ich von hier aus den Himmel sehen würde, Gott bewahre, dass wär nun wirklich zu viel verlangt. Ich weiß einfach, dass er permanent grau ist. So wie alles andere auch. So grau wie die Mauer gegenüber auf die ich die meiste Zeit starre. Kein angenehmes, beruhigendes Grau, sondern so ein schmutziges, hässliches, deprimierendes Grau. Nur auf einem kleinen Stück, unten an der Straße ist es kurz unterbrochen. Dort ist diese Mauer mit bunten Graffitis beschmiert. Ein Mann steht gerade in diesem Moment davor und versucht irgendwas davon zu entziffern. Sein Mantel ist – Überraschung- grau. Vielleicht ist London ja die grauste Stadt der Welt. Es erscheint mir nicht unwahrscheinlich. Dieses Grau scheint gerade über allen Dingen zu hängen, aber ich weigere mich standhaft es herein zu lassen. Nicht in meine Gedanken und nicht in meine Stimmung. Ich glaube fest daran, dass Freiheit im Kopf beginnt und die werde ich mir sicher nicht nehmen lassen, auch nicht von so einer beknackten Pandemie oder Regeln, die einem beinahe alles Schöne verbieten. Irgendwann werden wir diese ganzen Dinge die wir lieben, wieder tun können. Ich meine diesen ganzen Kram, der unser Herz schneller schlagen und die Augen leuchten lässt, selbst wenn wir nur daran denken, darüber sprechen oder in unserem Fall darüber schreiben. Ich bin so viel gereist in den letzten Jahren, ich hab so viele bunte Bilder in meinem Kopf, vielleicht genau für Zeiten wie diese. Ich halte auch noch länger durch. Ich stell mir einfach vor wie es wäre, warmen, weichen Sand unter den Füßen zu spüren und aufs Meer zu schauen oder unter einem Wasserfall in den Tropen zu stehen oder mir in einem finnischen Iglu den Hintern und die Nase abzufrieren. Am allermeisten freu ich mich aber darauf nach Hause zu kommen, mich auf einen Berggipfel zu setzen und meine Heimat von oben zu betrachten. Das ist vielleicht eine der wichtigsten Erkenntnisse, der letzten Wochen. Ich muss ständig an meine Heimat denken und dass ich da gerade am liebsten wäre. Jetzt wo alle vom Reisen träumen, will ausgerechnet ich, nur nach Hause. Verrückt oder?

Er machte eine Pause. Ich schluckte. Wir hatten uns in der Zeit so viele Dinge geschrieben, dass ich mich nicht detailliert an alles erinnern konnte. Aber daran erinnerte ich mich noch ziemlich genau. „Ja. Klingt nach mir.", sagte ich leise.

„Weißt du was ich am meisten an dir liebe Anni? Was ich gerne von dir lernen würde?" Ich zuckte innerlich zusammen. „Dass du so bist wie du bist, dass du so kompromisslos lebst und  weißt was du brauchst und was nicht. Bei vielen Menschen hab ich das Gefühl sie existieren halt so vor sich hin. Schleppen sich durch den Tag, die Woche, das Jahr. Sie belohnen sich mit ein paar netten Unterbrechungen von denen sie dann sehr lange zehren müssen. Du würdest das nicht akzeptieren. Du hast diesen Hunger nach Leben und Erleben, denn ich erst verstehe, seit das mit dem Leben für mich nicht mehr so selbstverständlich ist. Vielleicht musst du deshalb so viel Reisen. Reisen ist doch im Grunde nichts anderes als Sehnsucht nach Freiheit und Leben."

Ich nahm einen Schluck Tee. Er war mittlerweile fast kalt. „Du solltest mich nicht als Vorbild nehmen. Was ich tue, ist nicht ansatzweise so romantisch, wie es vielleicht klingt und es hat mich auch sehr viel gekostet. Ich mir nicht immer sicher, ob es richtig ist und ob es das wert ist. Du musst selbst für dich herausfinden, was es ist. Was dein Herz höher schlagen lässt.", zitierte ich mich selber.

„Das hab ich längst.", flüsterte er. Seine Stimme klang wie rauer Samt. Ich konnte nicht anders als ihn anzustarren, wie das hypnotisierte Kaninchen die Schlange. Vorsichtig und wie in Zeitlupe legte er seine Hand auf meine. Seine Berührung, war weich und irgendwie heilsam. Wie ein Pflastre auf meine blutende Wunde. „Es tut mir leid, Anni. Ich wollte dir die ganze Zeit die Wahrheit sagen, aber dann kam immer irgendwas dazwischen oder ich schaffte es einfach nicht. Es war so schön und es hat so gut getan. Jede Sekunde mit dir war so wertvoll und ich hatte Angst, dass es dann vorbei sein könnte, sobald ich dir sage wer ich bin. Ich war einfach nur glücklich, Anni, selbst hier mit dir zu sitzen und zu wissen, dass du wütend und enttäuscht bist, ist besser als alles andere." „Ich bin nicht wütend. Vielleicht wär es leichter, wenn ich s wäre. Ich hab nur das Gefühl ich weiß nicht wer du bist. Was war echt und was nicht?"

„Das weißt sehr wohl, wer ich bin. Das war immer ich. Die ganze Zeit." „Der Wasserschaden in deiner Wohnung, der Besuch bei deinem Freund, so Details wie dein richtiger Name...das war alles erfunden, oder zumindest verdreht und zurechtgebogen oder nicht?" Ich schüttelte resigniert den Kopf. „Ich hab es gehasst dich anzulügen." „Und trotzdem hast du es immer wieder getan, jeden einzelnen Tag hast du mich glauben lassen, dass..." Ich wich seinem Blick aus. „Dass was?" Er begann mit seinem Daumen über meinen Handrücken zu streichen und ich hatte das Gefühl, diese minimale Berührung in meinem ganzen Körper zu spüren. Es war kaum auszuhalten. Ich schwankte zwischen mich ihm an den Hals schmeißen und flüchten. „Du hast keine Ahnung wie sich das für mich anfühlt. Ich hab das Gefühle zwei wichtige Menschen verloren zu haben, die nur in meinem Kopf existiert haben." „Ich sitze doch hier vor dir. Vielleicht versuchst du es einfach anders herum zu sehen. Das war beides ich. Es ist verwirrend, ich weiß aber das geht vorbei." Er drückte meine Hand. Simon hatte etwas ganz ähnliches darüber gesagt, vielleicht war das logisch und trotzdem fühlte ich es nicht. „Annie", hauchte er und drückte meine Hand. Ich zog meine Hand ruckartig weg. Nur Mike nannte mich so und für mich war er nicht Mike. Immer noch nicht. Und wieder hüpfte in meinem Kopf und in meinen Gefühlen alles durcheinander. Es war frustrierend, wie sehr es mich einerseits zu ihm zog und ich dem andererseits einfach nicht nachgeben konnte, selbst wenn ich wollte. Mein Handy begann zu brummen. „Entschuldige mich. Ich muss da rangehen. Ich hab auf diesen Anruf gewartet. Ich stand auf, klemmte meinen Laptop unter den Arm. „Es ist...ich muss das eh erstmal sacken lassen." „Schon klar. Versteh ich." Es tat mir weh ihn da sitzen zu lassen, aber ich hätte diese Situation auch keine Sekunde länger mehr ertragen. Ich brauchte Luft zum Atmen und Zeit zum Nachdenken, ohne seine Gegenwart die mich nur noch mehr durcheinanderbrachte. Als ich draußen war, hob ich ab und versuchte zu krampfhaft zu lächeln um wenigsten ansatzweise optimistisch zu klingen. „Hoi Regi. Danke, dass du mich so schnell zurückrufst. Ich hab deine Email gelesen. Das klingt echt interessant."

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