Kapitel 4: Byren

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Die restliche Nacht verläuft wie erwartet friedlich, ohne Vorkommnisse, was mich nach meinem kleinen Vorfall zuvor erleichtert. Hannah behält mein unbedachtes Weggehen für sich, und ich bin dankbar dafür. Nachdem wir uns mit einem Hirsch gestärkt haben, setzen wir unseren Weg durch den dichten Wald in Richtung Byren fort.

Während wir uns der Stadt nähern, begegnen wir einigen Wölfen, die uns zwar misstrauisch beäugen, uns jedoch den Durchgang gestatten. Endlich erblicken wir durch die schwindenden Bäume die grau-blauen, massiven Stadtmauern von Byren. Ein Zeichen dafür, dass wir unserem Ziel näherkommen. Wir müssen einen längeren Umweg nehmen, um zum Haupteingang zu gelangen, wo wir uns wieder in unsere menschliche Gestalt verwandeln. Dort werden wir von den Wachen einzeln nach unserem Anliegen in der Stadt und unserer geplanten Aufenthaltsdauer befragt.

Die drei Männer und Hannah geben alle die gleiche Antwort: Sie wollen Freunde besuchen und den Winter über bleiben. Als Laura an der Reihe ist, erklärt sie, dass sie wegen mir gekommen ist und solange bleiben wird, wie es nötig ist, da sie seit dem Tod meiner Mutter für mich verantwortlich ist. Dann wenden sich die Wachen an mich.

"Ich bin hier, um etwas über meine Vergangenheit herauszufinden, und ich werde so lange bleiben, wie es eben dauert."

"Hm... ich habe das Gefühl, dich irgendwoher zu kennen", murmelt der Wächter nachdenklich.

"Das kann nicht sein. Ich kann mich erst seit Kurzem verwandeln, und dies ist mein erster Besuch im zentralen Wald."

"Nun gut, du darfst ebenfalls eintreten", entscheidet der Wächter schließlich und lässt mich passieren.

Wir bedanken uns und nehmen Abschied. Nachdem wir gemeinsam die Stadtmauern passiert haben, trennen sich unsere Wege. Jetzt stehe ich alleine mit Laura da und betrachte beeindruckt das Bild vor mir.

Vor mir erstrecken sich fünf Straßen. Die Hauptstraße führt direkt in die Stadtmitte hinein und ist so breit, dass locker 15 Personen nebeneinander gehen können, ohne sich zu berühren. Dort herrscht reges Treiben, und ich erkenne verschiedene Geschäfte wie eine Bäckerei oder eine kleine Fleischerei. Die beiden Straßen, die jeweils links und rechts von der Hauptstraße abgehen, sind deutlich ruhiger und schmaler. Offensichtlich führen sie in Wohngebiete. Die letzten beiden Straßen verlaufen entlang der Stadtmauer, sind eng, menschenleer und schmutzig.

Während Kinder fröhlich auf der Hauptstraße spielen, eilen geschäftige Leute durch die Menge. Das Stimmengewirr und die Geräusche der Stadt erfüllen die Luft, und ich spüre die pulsierende Energie der Stadt.

Als ich mich umschaue, glaube ich, etwas auf einem der nahegelegenen Dächer zu erkennen. Tatsächlich sitzt dort ein Junge, ungefähr in meinem Alter, und schaut zu uns herunter. Seine Augen treffen kurz meine, bevor er sich abrupt abwendet und verschwindet. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, und ich frage mich, wer er wohl ist und warum er uns beobachtet hat.

Laura sieht mich an und lächelt. "Ein beeindruckender erster Eindruck, nicht wahr?"

"Ja, definitiv", antworte ich, während ich noch immer versuche, den Blick des Jungen auf dem Dach zu verarbeiten. "So habe ich mir das immer vorgestellt, aber die Stadt tatsächlich von innen zu sehen, ist wirklich überwältigend."

Gut, sie hat den Jungen nicht gesehen, denke ich mir, während ich weiterhin die Straßen und Gebäude der Stadt betrachte, voller Neugier und Aufregung darüber, was mich in Byren erwarten wird.

"Ich zeige dir zunächst den Weg zu einem kleinen Hotel, in dem wir übernachten können. Dort gibt es auch Mittagessen. Danach kann ich dir die Bibliothek zeigen, oder du kannst alleine auf Erkundungstour gehen", schlägt Laura vor. Ich nicke als Antwort.

"Der nachtschwarze Wolf könnte dir mehr Infos geben", flüstert Yaras Stimme in meinem Kopf.

<So genau weißt du das gar nicht, und wieso sollte ich den Typen suchen, wenn die Bibliothek viel einfacher zu erreichen ist?>, werfe ich ein.

"Schon vergessen, dass du dir in der Nacht noch sicher warst, dass ihr euch wiedersehen werdet?"

Sie lässt nicht locker, aber ich entscheide mich, darauf nicht zu reagieren. Stattdessen widme ich mich meiner Umgebung, um mich später nicht so leicht zu verirren.

Wir schlendern die belebte Hauptstraße entlang, vorbei an spielenden Kindern, der Bäckerei, zwei älteren Damen, die sich angeregt unterhalten, und dem Fleischer, der sein Angebot laut verkündet. Plötzlich fällt mir auf, wie sich die Straße vor uns stark verbreitert. Ich werfe Laura einen fragenden Blick zu.

"Das ist der beliebteste Ort der Stadt: La Plaza Lupo. Hier finden jedes Wochenende Aufführungen, Konzerte und Shows statt. Viele Leute treffen sich hier, um die verschiedensten Aktivitäten zu unternehmen. Und in der Mitte...", erklärt sie.

Wir treten auf den Plaza Lupo und da die meisten Leute nun vor uns weg sind, erblicke ich den großen Brunnen in der Mitte des riesigen, kreisrunden Platzes. Der Brunnen besteht aus einem großen Wasserbecken und einer noch größeren Statue.

Als ich die imposante Statue betrachte, durchströmen mich gemischte Gefühle. Ihre majestätische Präsenz lässt mich staunen, während gleichzeitig ein Hauch von Unbehagen mich umfängt. Es ist, als würde sie mir eine Geschichte erzählen, von der ich nur Bruchstücke kenne. Der Blick zu Laura verrät, dass auch sie die Bedeutung dieses Symbols erkennt, das uns mit unserer Vergangenheit verbindet.

Laura bricht das Schweigen und schlägt vor, zum Hotel zu gehen. Ich folge ihr, während mein Kopf noch mit den Eindrücken der Statue kämpft. Auf dem Weg dorthin passieren wir den lebhaften Plaza Lupo und tauchen schließlich in eine ruhigere Nebenstraße ein. Die Häuser hier wirken einladend, und der Gedanke, bald in einem gemütlichen Hotelzimmer zu sein, erfüllt mich mit Vorfreude.

Das Hotel "Goldene Pfote" erwartet uns bereits mit seiner charmanten Fassade. Beim Betreten werden wir von einer warmen Atmosphäre empfangen, die mich sofort entspannt. Laura organisiert die Zimmer, und als sie mir meinen Schlüssel übergibt, fühle ich mich für einen Moment wie zu Hause.

Gemeinsam gehen wir die Treppe zu unseren Zimmern hinauf. Als ich die Tür öffne, empfängt mich eine behagliche Atmosphäre. Das Zimmer strahlt eine gewisse Geborgenheit aus, die mir guttut. Nachdem ich meine Tasche abgelegt habe, betrete ich das Badezimmer und betrachte mein Spiegelbild. Ein kurzer Moment der Reflexion lässt mich innehalten, bevor ich mich frisch mache und mich dann wieder ins Zimmer begebe.

Die Zeit für das Mittagessen ist gekommen, und ich nehme ein paar Münzen aus Mums Beutel, den ich seit ihrem Tod bei mir trage. Den Schlüssel hänge ich an meine Kette, ein Symbol der Verbundenheit und Erinnerung. Als ich die Treppe hinuntergehe, wartet Laura bereits unten auf mich, und gemeinsam setzen wir uns im Gasthaus des Hotels an einen Tisch.

Wir bestellen saftiges Reh und lassen uns von der Vorfreude auf die kommenden Abenteuer in dieser faszinierenden Stadt beseelen. Die Gedanken an das, was uns erwarten mag, vermischen sich mit dem Duft von frisch zubereitetem Essen und der angenehmen Atmosphäre des Gasthauses.


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1110 Wörter
Geschrieben: 06.10.2023
Das Kapitel hat schon um einiges länger gedauert, vor allem wegen den Wegbeschreibungen und der provisorischen Karte, an der ich mindestens 2 Stunden gesessen bin. Und sorry das das Kapitel bisschen kürzer ist, immer schaff ich nicht die 1000 Wörter

Vermächtnis der weißen WölfeWhere stories live. Discover now