„Wissen sie, dass du hier bist?" Er schüttelte den Kopf. „Aber gleich. Ich ruf sie an. Wir werden heute Nacht hier bleiben müssen. Jetzt noch zurückzugehen, wäre nicht besonders klug."

„Du willst hier bleiben?" „Fällt dir was Besseres ein? Es wird in einer halben Stunde stockfinster sein und ich hab keine Lust mir wegen dir auch noch die Knochen zu brechen. Ich geh jetzt erstmal telefonieren.", brummte er etwas mürrisch. Er kramte herum und legte mir eine Decke über die Schultern, bevor er die Hütte wieder verließ.

Es kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor bis er wieder zurückkam. Er sagte kein Wort, hatte aber einen Korb mit Holz dabei. Er stellte ihn ab, zog die Spikes von seinen Schuhen und legte Mütze und Handschuhe ab. Dann kniete er sich vor den Ofen und begann Feuer zu machen.

„Wen hast du angerufen?"
„Deine Mutter und Natalie."

„Und?"

„Deine Mutter war sehr erleichtert, dass du ok bist."

„Und Natalie?"

„Wird mir wahrscheinlich morgen erst den Kopf abreißen." Er drehte sich zu mir und zeigte zum ersten Mal etwas, was als Lächeln durchgehen konnte.

„Tut mir leid, wenn du wegen mir Ärger bekommst."

„Schon gut. Sie wird's schon verkraften und du hast ja Recht. Niemand hat mich drum gebeten." Er widmete sich erneut dem Holz und dem Ofen. Ich beobachtete ihn und starrte seinen Hinterkopf eine Weile an. „Ich hab es nicht so gemeint. Ich bin nur etwas neben der Spur." Er brummte irgendwas, beachtete mich aber nicht weiter. Als das Feuer brannte, hockte er sich davor auf den Boden und wärmte sich die Hände. „Willst du nicht herkommen? Du musst doch total durchgefroren sein." Ich zögerte, stand dann aber doch endlich auf und nahm zwei rot-karierte Sitzkissen mit. Ich drückte Simon eins in die Hand und setzte mich dann mit dem anderen, neben ihn auf den Fußboden. Ich zog meine Jacke aus, damit ich die Wärme besser spüren konnte, wickelte mich aber sofort wieder in die Decke ein um diesen beschissenen Pullover nicht sehen zu müssen. Meine Füße, die Hände und auch mein ganzer restlicher Körper fühlten sich steif und taub an. Die Hitze des Feuers kroch langsam in meine Wangen. Auch Simon legte seine Jacke ab und lockerte seine Schürsenkel. Ich schielte zu ihm rüber. Ob er sauer auf mich war, weil ich ihn in diese Lage gebracht hatte? Wenn man ihn nicht gut kannte, würde man denken, er sei die Ruhe selbst, aber ich konnte seine Körpersprache immer noch gut lesen und auch sein Gesicht. Seine Haltung war verkrampft und er presste nach jedem Satz die Lippen für ein paar Sekunden aufeinander. Sein Ausdruck war zwar kontrolliert, aber seine Augen verrieten ihn. Er war angespannt und definitiv wütend. Als er bemerkte, dass ich ihn musterte, stand er auf. „Ich mach uns mal Tee. Du siehst echt nicht gut aus. Warum hast du dir nicht wenigstens ein Feuer gemacht? Ich check es nicht." Ich zuckte nur teilnahmslos mit den Schultern. Er füllte Wasser in den alten, verbeulten Topf, holte allerhand Zeug aus seinem Rucksack und durchsuchte die Schränke. Irgendwann brummte er zufrieden. „Auf deine Oma ist halt Verlass. Hier trink das erstmal." Er stellte zwei Schnapsgläser hin und füllte sie mit Oma Lises Enzian. „Ich musst dich ja irgendwie schnell warmkriegen und zwar dringend." Normalerweise hätte ich der Versuchung irgendwas Anzügliches, Frivoles auf so einen Satz zu antworten, nicht widerstehen können, aber nicht jetzt und nicht bei ihm. Die Situation war schon absurd und unwirklich genug. Ich wollte eigentlich protestieren, nahm das Glas dann aber doch ohne Diskussion entgegen. „Prost." Die kleinen Gläschen klirrten, als sie sich berührten. Ich schüttete das Zeug in mich hinein, obwohl ich es verabscheute. Simon wusste das. Aber vielleicht erinnerte er sich auch gar nicht mehr daran. Er lachte laut, als ich das Gesicht angewidert verzog und den Kopf schüttelte. „Ja ich weiß, aber manchmal heiligt der Zweck eben die Mittel." Der Schnaps brannte in meiner Kehle, sammelte sich dann aber zu einer kleinen Pfütze voll Wärme in meiner Brust. Das tat überraschend gut und war wie ein kleiner Funken Glück, der gleich wieder verglühen würde. Ich schielte auf die Flasche in Simons Hand und hielt ihm mein Glas nochmal entgegen. „Noch einen?" Er zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Sicher? Wann hast du denn zuletzt was gegessen?" „Jetzt schenk schon ein, Simon der Vernünftige.", stöhnte ich entnervt und verdrehte die Augen. Mit diesem Spitznamen, den ihm seine Mutter eingebrockt hatte, hatten wir ihn in der Kindheit so manches Mal bis aufs Blut gereizt. Wenn Simons Mutter über ihre drei Söhne redete, vergaß sie nie zu erwähnen, dass Simon ja der Vernünftige der drei sei. Seine jüngeren Brüder zogen ihn oft damit auf und auch ich fand schnell heraus, dass man damit den gechillten, ausgeglichenen Simon, zuverlässig aus der Reserve locken konnte. Er hatte es gehasst, so genannt zu werden. Ganz verfehlte es seine Wirkung wohl noch immer nicht, denn in seinen Augen funkelte es und seine Mundwinkel zuckten verdächtig. „Simon der EINZIG Vernünftige hier, schenkt dir nur nochmal ein, wenn du gleich was isst. Such dir was aus " Er schmiss mir eine Tüte Chips und je eine Packung Butterkekse und Salznüsse hin. Kann dir auch noch eine fürstliche Fünf-Minuten-Terrine anbieten.

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