17. Das Drachenauge

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Viggo trat festen Schrittes hinaus. Doch nachdem der Drachenhautvorhang mit einem sanften Knall zurückgefallen war, bröckelte seine Fassade. Er verlor die Fassung. Sein Körper zitterte und er kippte vornüber. Er fühlte sich so machtlos. Er bedauerte es zutiefst, Hicks in seiner Hütte zurückgelassen zu haben. Er würde diese Tortur nicht mehr lange durchhalten. Viggo wankte zu dem nächsten großen Felsen und erbrach sich. Ein Schwall Erbrochenes mit Blutspritzern ergoss sich auf den Boden zu seinen Füßen. Er betrachtete es verwundert, während Speichel glitzernd von seinen Lippen tropfte. Das Blut, das leuchtend rot aus seinem Inneren gekommen war, verfärbte sich binnen Sekunden tiefschwarz. Er erschrak, fasste sich ins Gesicht, betastete seine kaltschweißige Stirn und wischte sich den Speichel von den Lippen.
Seine Seele war vergiftet. Sein Körper war der eines Verlorenen und sein Blut stank nach Tod. Es war sowieso bald zu Ende. Er würde ohnehin nicht nach Walhalla finden, also käme es auf ein paar Gräueltaten mehr oder weniger auch nicht an.
Viggo klammerte sich noch einige Momente an den Felsen bis sich sein Puls beruhigt hatte und das unsägliche Schwindelgefühl ein wenig gedämpft war, als er wackelig in Richtung der Handelsschiffe schlurfte, die unten am Hafen lagen.
Es war noch zu früh am Morgen, als dass sich die Drachenfänger schon auf die Schiffe verirrten.
Sie wiegten im Wind sanft hin und her. Er schleppte sich auf das Deck, griff nach einer Falltür, öffnete sie mit aller Kraft und stolperte die Stufen hinab. Die Holzblanken knarzten mürrisch, als würden sie sich beschweren so früh am Morgen geweckt zu werden. Staub rieselte von der Decke und eine Fackel hing schwach flackernd an der Wand. Wie hypnotisiert wankte er auf sie zu.
Er muss es finden, bevor es Ryker findet, dachte er kopflos. Er griff fahrig nach der Fackel und riss sie so stark herunter, dass sie beinahe erloschen wäre. Das Licht erholte sich schwach und Viggo fluchte, dass es trotz der Lichtquelle so duster war. Zielstrebig durchschritt er den dunklen Gang und stieß am Ende auf eine grün leuchtende, mit einer Patina überzogene Kupfertür. Ratlos stand er davor und fluchte abermals laut. Er hatte Ryker befohlen es zu verstecken, aber hatte nicht damit gerechnet, dass es so schwierig war daran zukommen. Er verfluchte Ryker insgeheim und Panik stieg in ihm auf. Was, wenn Ryker es an sich genommen hatte? Das wäre schrecklich. Es war töricht gewesen seinen Bruder so zu behandeln. Hicks trieb einen Keil zwischen die Balance, die Viggo all die Jahre aufrechterhalten hatte. Er befahl Ryker gerne, was er zu tun und zu lassen hatte, konnte ihn aber dementsprechend leicht besänftigen. Doch jetzt musste er sich eingestehen, dass Ryker sich nicht mehr besänftigen ließ, solange Hicks unter ihnen weilte. Und er war leider zu wertvoll, als dass er ihn einfach so vernichten könnte. Und damit Ryker sich nicht auflehnen konnte, musste er es vor ihm holen. Er betastete die Tür mit seiner freien Hand und besah die Runen, die darin eingraviert waren. "Hoch oben im Norden, dort wo sich Eismeer und dicke Wolken küssen, liegt versteckt was wir am meisten missen." Er stöhnte. Wie einleuchtend. Eismeer und dicke Wolken küssen...Norden..kryptischer, ging es wohl nicht?
Aber vielleicht waren das Richtungsangaben?
Er überlegte, Norden war oben. Er drehte sich im Kreis und schätze ab, wo ungefähr Norden war. Und dort wo sich Wolken und das Eismeer küssen, ist mit Sicherheit der Horizont gemeint. Er fuhr mit dem Finger die Horizontallinie nach und ertastete einen Schalter. Mit einem Klick ließ er sich eindrücken und zum Vorschein kam ein Schlüssel. Viggo fingerte ihn heraus und betrachtete ihn im spärlichem Licht der Fackel. Es war ein schlichter metallener Schlüssel für gewöhnliche Türen. Er drehte ihn zwischen seinen Fingern hin und her und inspizierte daraufhin die Tür nach einem Schlüsselloch. Doch zu seinem Verdruss war keines zu finden. "Drachendung!" Fluchte er lautstark. Er inspizierte das Kästchen, in der der Schlüssel steckte erneut und tatsächlich. Unter dem Schlüssel, den er herausgenommen hatte, befand sich ein weiterer Schalter. Er betätigte ihn. Es knackte und schließlich bewegte sich das Tor quietschend und knatternd nach oben. Viggo atmete erleichtert auf. Er konnte nicht abwarten bis das Tor schwerfällig nach oben gezogen worden ist, weshalb er sich bei der ersten Gelegenheit hindurchzwängte. Er wollte gerade weitereilen, da bemerkte er einen silbrig glänzenden Gegenstand im Augenwinkel. Es war eine Streitaxt, die von der Decke herunterschwang und ihn um Haaresbreite verfehlte. Er blickte in sein verzerrtes Spiegelbild und beobachtete sich dabei, wie seine Augenbrauen vor Schreck zuckten. Er ärgerte sich mehr über seine Gefühlsregung im Gesicht, als über die Axt, die mittlerweile im Takt hin und herschwang. Und doch lächelte er. Wie vorhersehbar, wie platonisch. Fallen. Unkreativer ging es wohl nicht. Er zählte die Sekunden in welchen Abständen die Axt hinunter sirrte und in einem 170 Grad Winkel zum Stehen kam um daraufhin wieder hinabzufallen.
Eins, zwei, drei, sirr'.

 Sirr'. 

Er beobachtete die Axt noch einige Male, wie sie hin und her schwang bis er sich dazu entschloss hindurchzuschlüpfen. Er strich seine Kleider glatt und blickte sich unbekümmert im Raum um. Die Fackel drehte er ungeduldig zwischen seinen Fingern. Er wollte gerade weitergehen, als er ein leises Rasseln wahrnahm. Er trat ein kleines Stück weiter an die Wand heran, als ein Schatten in die nächstgelegene Ecke huschte. Viggo beschlich ein mulmiges Gefühl. Er wich einen Schritt zurück und folgte dem Schatten mit den Augen. Solch ein Verhalten kannte er. Das Rasseln wurde lauter und plötzlich flog ein Säureball auf ihn zu. Knapp verfehlte ihn die ätzende Flüssigkeit und Viggo erkannte: "Ein Wechselflügler!". Weitere Säurebälle flogen auf ihn zu. Er verbarg sich unter seinem Drachenlederumhang und schob sich langsam der nächsten Türe entgegen. Er stieß sie auf. Klirrend knallte sie gegen die Bugwand und er stürmte hindurch, wandte sich geschickt um und zog sie mit Wucht zu. Die Fackel war inzwischen erloschen. Zarte Qualmwölkchen drangen aus dem fingerdicken Docht hervor. Er warf sie achtlos zu Boden und sie rollte klirrend davon.

"Ah, ich hatte schon gedacht, die Wechselflügler hätten dich erwischt, Bruder." drang eine kalte Stimme an sein Ohr. Viggo hielt inne und versuchte eine großgewachsene Gestalt in der Dunkelheit auszumachen. "Ryker, schön, dass du...". "Ach, spar dir das Geplänkel, Bruder." unterbrach ihn Ryker zynisch. "Warum bist du hier?" fragte Viggo misstrauisch. Ryker lachte trocken, "Weil ich weiß, dass du das hier suchst." Er entfachte eine neue Fackel und hielt einen langen ovalen Gegenstand in das flackernde Licht. In der Mitte glänzte eine Linse. "Ich danke dir, Bruder, dass du es für mich aufbewahrt hast." sagte Viggo mit dem Anflug eines Lächelns auf den blutleeren Lippen. "Überreich es mir und dann können wir endlich raus aus diesem düsteren Ensemble." versuchte Viggo die Stimmung ein wenig aufzuhellen. Doch Ryker schnaubte herablassend "Du glaubst wirklich, dass ich dir dieses Schmuckstück wirklich überlasse? Du ahnst gar nicht, was ich dafür auf dem Schwarzmarkt erhalte."        "Ryker, sei nicht dumm. Das Drachenauge kann uns zu viel mehr Reichtum verhelfen, als du dafür auf dem Schwarzmarkt jemals  bekommen würdest. Also gib es mir und lass uns zusammenarbeiten." Ryker grunzte nur, zog sein Schwert und schritt drohend auf Viggo zu. Viggo seufzte herablassend. "Begeh keine Dummheit, Bruder. Du weißt, was beim letzten Mal passiert ist." sagte er, während auch er sein Dämonenschwert zog. "Oh, die Narbe auf meinem Rücken werde ich definitiv nicht vergessen. Sie fordert immer noch eine Revenge, Bruder." Er spuckte die letzten Worte nur so aus, stürmte mit geballter Wut auf ihn zu, holte aus und Metall krachte auf Metall. Es quietschte und klirrte, während beide außer Atem innehielten. Viggo stieß ihn zurück und schlug gleich darauf erneut auf seinen Bruder ein. Er wich zurück nur um daraufhin wieder auf Viggo loszugehen. Die Klinge rutschte ab und traf Viggo am Arm. Er heulte auf und bemerkte wie heißes Blut seinen linken Arm hinabrann. Genervt besah er sich kurz seinen Arm, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte "Gut, du hast es nicht anders gewollt, mein Lieber." Mit diesen Worten drosch er nur so auf Ryker ein, der anfangs erstaunlich gut parieren konnte. Doch auch seine Kraft verließ ihn einige Minuten später. Viggo, der sich unablässig in Rage kämpfte, bemerkte nicht, dass Ryker's Klinge in Zwei sprang und sich nun die Hände schützend vor sein Gesicht hielt. Schmerzensschreie durchzogen die muffige Luft. Sie stammten von Ryker, dessen Hemdsärmel nicht mehr blütenweiß sondern dunkelrot leuchteten. Viggo, der nun innehielt, sah wie sich Ryker unter Schmerzen krümmte. Er stieß das Dämonenschwert mit seiner blutbesudelten Klinge von sich, dass nach weiterem Blut nur so lechzte. Er kniete sich zu seinem Bruder hinab. Doch Ryker stieß ihn von sich. Schweißperlen rannen von seinem Gesicht. Viggo krallte sich das Drachenauge, hob sein blutverschmiertes Schwert vom Boden auf, steckte es fahrig in die Scheide und stürmte zur Tür hinaus.

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