Anni

Ich sah Simon wie in Zeitlupe auf mich zukommen und fluchte innerlich. Wie immer, wenn ich unverhofft auf ihn traf, begann mein Hirn hektisch sämtliche Fluchtszenarien durchzuspielen, obwohl ich genau wusste, wie sinnlos und dumm das war. Heute nervte es mich umso mehr, weil ich eigentlich mit Glückshormonen überschwemmt war, weil das Gras heute grüner, der Himmel blauer war und die Luft, obwohl wir steil auf den Dezember zusteuerten, nach Frühling roch. Gerade noch hatte ich mich so gut gefühlt. So als hätte Michi mir eine Art Upgrade verpasst, besser gesagt meinem Selbstvertrauen. Die Art wie er mich ansah, wie er mit mir redete, mir zuhörte, das alles gab mir ein unglaublich gutes Gefühl. Durch seine Augen, fühlte ich mich interessanter, attraktiver und wie eine bessere Version von mir selbst. Simons Anwesenheit dagegen machte genau das Gegenteil. Allein sein Anblick erinnerte mich sofort an all meine Makel, meine Unzulänglichkeiten, Schwächen und Fehler. Dieses bescheuerte Gefühl nicht gut genug, zu egoistisch und seine größte Enttäuschung zu sein, kroch in Sekundenbruchteilen sofort wieder in mir hoch. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich fand es unerträglich, dabei zusehen zu müssen wie Vergangenheit und Gegenwart derart abrupt und unsanft aufeinanderprallten. Ich atmete durch und versuchte ruhig und souverän zu bleiben. Ich würde mir sicher nicht die Blöße geben vor Simon zu flüchten oder dumm herumzustottern. „Na, ihr zwei wo kommt ihr den her?", flötete ich freundlich und zwang mich zu einem unverbindlichen Lächeln. „Wollt's auch ein Radler? Dann hol ich euch schnell eins." Mein Bruder ließ sich ächzend auf einen Stuhl fallen. „Ja bitte. Der Simon hat mich wieder an Haufen schweres Zeugs rumschleppen lassen. Morgen kann ich mich sicher kaum bewegen." „Jammer nicht so rum, du alter Mann. So schlimm war's jetzt auch wieder nicht.", grinste Simon und klopfte ihm kräftig auf die Schulter. „Servus, ich bin der Simon." Er streckte Michi die Hand hin. Ich wandte meinen Blick ab und holte schnell die Getränke. Es passte mir überhaupt nicht, dass er da war. Diese ganze Szene war falsch. Am liebsten hätte ich Simon ins Gesicht gesagt, dass er verschwinden und heimfahren sollte zu seiner Natalie. Und überhaupt war das hier nicht sogar verboten? Unser Landkreis hatte schon wieder irgendwelche Zahlen überschritten. Zu viele Haushalte, zu viele Menschen. Er sollte einfach wieder gehen. „ Ja Simmerl, da hab ich ja doch richtig gehört." Auftritt Mama. Ich konnte ein Augenverdrehen kaum noch unterdrücken. Sie tätschelte ihm die Wangen und umarmte ihn wie einen verlorenen Sohn und sowas in der Art war er auch für sie. Schon immer und erst Recht seit der Sache mit Sebi. Mir wurde schlecht und schlagartig war mir wieder bewusst warum ich so oft von hier verschwinden musste. Warum es manchmal einfach zu viel und kaum zu ertragen war. Ein Kribbeln wanderte über mein Knie. Es war Michis Hand. Eine kurze mitfühlende Berührung, die mich zwar ganz sicher alles andere als beruhigte, aber mich trotzdem dazu bracht mich besser zu fühlen. Dankbar legte ich meine Hand auf seine, um mich wenigstens für einen Augenblick an ihm festzuhalten. Er sah mich überrascht an. Meine Mundwinkel zuckten und ich war gerade unglaublich dankbar, dass er da war. Niemand achtete auf uns und selbst wenn, es war mir überraschend gleichgültig. Irgendwie grotesk, dass ich umgeben war von Menschen, die mir nahestanden, die ich ein Leben lang kannte und es sich trotzdem so anfühlte, als sei gerade er, heute mein Verbündeter. Als Mama endlich von Simon abließ, zog auch ich meine wieder Hand zurück. Ich wollte es nicht herausfordern und auch Michi nicht in eine unangenehme Situation bringen. Es war bestimmt eh schon eigenartig genug für ihn, zwischen den ganzen Wahnsinnigen zu sitzen. Ich hörte wie Mama versuchte Simon zu überreden zum Essen zu bleiben und hätte ihr am liebsten den Mund zugehalten. „Das ist sehr lieb Lene, aber ich esse zu Hause sonst krieg ich noch Ärger." In meinem Kopf sah ich sofort Natalie mit einem Kochlöffel bewaffnet am Herd stehen und eifrig im Topf herumrühren. Selbstverständlich in einer nagelneuen, perfekt ausgestatteten und riesigen Küche, die Simon nach ihren Wünschen, eigenhändig gebaut hatte. Na wenn man schon einen Schreiner im Haus hat, würde sie jedes Mal sagen, ihren Bauch streicheln und dämlich grinsen, wenn sie ihren Sonntagsbesuch im neuen Domizil herumführte. Ich musste mich zusammenreißen um mich nicht angewidert zu schütteln. Das einzige was Simon je für mich gebaut hatte, war die provisorische Inneneinrichtung für den Bus mit dem wir einen Sommer lang durch Europa gereist waren. Ist gut Anni entspann dich. Du hast es ja gehört. Er will ja gar nicht bleiben, versuchte ich mich zu beruhigenIch wollt nur Jakob schnell heimbringen und ..." hörte ich ihn sagen. Nach dem er mich die ganze Zeit kaum angesehen hatte, richtete er seinen Blick plötzlich ohne Vorwarnung auf mich. „..Anni hast du vielleicht mal eine Minute für mich?" Nicht nur mich erwischte seine Bitte kalt. Alle waren überrascht. Niemand sagte mehr ein Wort. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Irgendwann registrierte ich dankbar, dass Jakob schnell ein Gespräch mit Michi anfing und meine Mutter sich daraufhin umdrehte und wieder in die Küche marschierte. „Was gibt's denn?", fragte ich zögernd. „Können wir vielleicht kurz irgendwo alleine sprechen." Ich nickte, stand auf und nahm meine Flasche. „Wir können uns runter an den Pool setzen, wenn du willst. Er stimmte zu und ging schweigend neben mir her. „Verrückt diese Temperaturen um diese Zeit, oder?", sagte er irgendwann „Ja Klimaerwärmung at its best oder keine Ahnung, wo das gerade herkommt. Aber du wolltest jetzt sicher nicht mit mir über das Wetter reden, nehme ich an?"

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