Ich nahm ihre Hand. „Was ist passiert?"

„Es war ein wunderschöner Bilderbuchtag. Alles ist total perfekt gelaufen. Perfektes Wetter, Perfekte Bedingungen, perfekte Sicht. Sie waren schnell. Viel schneller, als wenn ich Anfängerin mit dabei gewesen wäre. Sie sind ohne Probleme über den Grat und haben dann am letzten der drei Gipfel nochmal kurz Pause gemacht. Es gibt ein Foto davon, wie Sebi da am Gipfel sitzt und strahlt. Er sieht sehr glücklich aus, zufrieden und entspannt. Der schwierigste Teil war schon geschafft und da oben ist es einfach nur traumhaft und unfassbar schön. Danach wollten sie absteigen Richtung Wimbachgries. Nach ein paar Metern ist er gestolpert. Einfach nur ein einziges Mal kurz gestolpert. Er ist sehr, sehr unglücklich gefallen in eine steile Rinne und dann ungefähr zweihundert Meter abgestürzt. So hat man uns das zumindest erzählt. Es war seine achte Watzmannüberschreitung und gleichzeitig seine letzte. Er hat es so geliebt, aber er hatte auch immer Respekt davor und es auch durchaus kritisch betrachtet. Er hat es gehasst, wenn Menschen sich und andere durch Leichtsinn in Gefahr gebracht haben. Ich hab viel von ihm gelernt, diesbezüglich. Es gibt Leute, die sagen mit Erfahrung, sei das gar nicht so schwer und gut machbar, aber das wär ihm nie über die Lippen gekommen. Er meinte immer das Gefährlichste sei es zu unterschätzen und dass das Empfinden gerade am Watzmann sehr unterschiedlich und individuell sei. Nun, ich werde wohl nie erfahren, wie es für mich gewesen wäre. Mit ihm hätte ich mich sicher gefühlt, das weiß ich. Es scheint mir immer noch so unfair und unverständlich, dass gerade Sebastian das passiert ist. Er hat nichts falsch gemacht. Man nennt den Watzmann anscheinend nicht ohne Grund den Schicksalsberg, weil immer wieder Menschen in den Tod stürzen. Ich hab inzwischen für mich beschlossen, dass es reicht durch Sebi mit diesem Berg für immer schicksalhaft verbunden zu sein."

Ich blickte hoch zu dem mächtigen Bergmassiv und dann wieder zu Annie und auf ihren zierlichen, drahtigen Körper. Mich schauderte es bei dem Gedanken daran, dass sie da oben..., dass ihr etwas hätte passieren können, dass sie es hätte sein können, die in einem winzigen, unachtsamen Moment gestolpert wäre und...sie jetzt nicht hier bei mir wäre. Ihr wärt beide nicht hier. Ohne sie gäbe es dich wahrscheinlich auch nicht mehr, vergiss das nicht.

Ich streckte die Hände nach ihr aus und schlang meine Arme um sie. Obwohl ihr nichts passiert war spürte ich plötzlich eine furchtbare Angst sie zu verlieren. Mir wurde bewusst wie eng unsere Schicksale miteinander verwoben waren, nur Annie ahnte nichts davon.

„Ist es nicht schwer diesen Berg dann immerzu vor Augen zu haben?"

„Anfangs schon, ja. Vielleicht hat es auch eine Rolle gespielt, dass ich unbedingt weg wollte. Ich hab mir die abgefahrensten Dinge überlegt und kam mit der ganzen Geschichte nicht gut zurecht. Eine Weile war ich davon überzeugt, dass es eigentlich mich hätte treffen sollen, dass der Berg mich holen wollte und Sebi nur genommen hat, weil ich nicht da war. Dann war ich auf einmal davon überzeugt ich müsste erst Recht da rauf, den Berg quasi besiegen und bezwingen. Es war der schlimmste Streit, den ich jemals mit Simon hatte. Er hat es mir schlichtweg verboten, obwohl er mich besser hätte kennen müssen. Eines Tages bin ich dann bis zum Watzmannhaus gegangen. Dort befindet sich quasi das Basis-Camp für die Überschreitungen und bis dahin ist es eine relativ normale Bergtour. Ich hab da oben übernachtet mit den ganzen anderen Menschen, die am nächsten morgen früh aufgebrochen sind. Aber ich hab mich ihnen nicht angeschlossen, ich bin geblieben. Ich hab mich hingesetzt und einfach gefühlt, dass es richtig war, es nicht zu tun. Ich hab an diesem Morgen, meinen Frieden mit dem Berg gemacht. Der Berg hat keine Schuld. Nie. Sebi hat immer gesagt, dass der Berg nie den Menschen gehört, sondern dass die Menschen sich dem Berg bewusst ausliefern, sich ihm hingeben, weil sie dieses Lebensgefühl, das Adrenalin und die Freiheit spüren wollen, weil sie sich von seiner Gegensätzlichkeit so angezogen fühlen. Für mich ist Sebi jetzt ein Teil von diesem Berg und schon deshalb kann ich ihm keine negativen Gefühle mehr entgegen bringen."

Anni

Er drückte mich sanft an seine Brust und berührte mich die ganze Zeit, während ich immer weiter redete. Meine Haare, mein Gesicht, meine Hände. Normalerweise wurde ich nicht gerne auf diese körperliche Art getröstet. Ich ließ das nicht gerne zu und es war auch nicht klar, ob das als Trost von ihm gemeint war, aber es fühlte sich gut an und irgendwie heilend, genau jetzt, hier und so darüber zu sprechen. Seine sanften Berührungen waren wie ein faszinierendes Konzert aus Sinneseindrücken und ich wusste jetzt schon, dass sie mir fehlen würden, sobald er damit aufhörte. So als hätte er ein völlig neues Grundbedürfnis in mir geweckt. „Du hast mir verschwiegen, dass du magische Hände besitzt. Mir ist es normalerweise fast immer zu kalt oder zu warm, aber deine Hände erzeugen absolute Wohlfühltemperatur." Ich öffnete die Augen und seine Nähe verschlug mir einen Moment lang die Sprache. Seine dunkelblauen Augen strahlten mich an und waren wie zwei Theaterscheinwerfer auf mich gerichtet. „Nur eins meiner verborgenen Talente. Du musst ab sofort einfach immer zu mir kommen, wenn es dir zu kalt oder zu warm ist. Ich stehe dir zur Verfügung. Zu jeder Tages und Nachtzeit." Er blinzelte unschuldig und ich musste grinsen. „Schon klar. Danke dass du mir zugehört hast, das war gut. Ich denke ja immer, dass das längst überwunden ist. Wie so eine Akte, die geschlossen und sicher archiviert ist, aber dann beschäftigt es mich doch wieder mehr und ich will in meinem Umfeld dann aber keine alten Wunden aufreißen und sage nichts. Ich weiß, dass ich manchmal zu viel quatsche, aber es ist einfach schön so frei über ihn sprechen zu können."

„Ich hör dir gerne zu, Anni. Du hast so eine spezielle Art zu erzählen, dass man immer das Gefühl hat, es selber erlebt zu haben. Außerdem interessiert mich unheimlich, was da alles drin steckt." Er tippt an meine Schläfen und dann an meine Brust. „Du interessierst mich und das ist jetzt sehr verhalten ausgedrückt. Du bist der spannendste Mensch, den ich seit sehr, sehr langer Zeit getroffen habe und ich genieße jede Sekunde mit dir."

„Du bist echt gut.", stellte ich fest und kaute auf meiner Lippe herum. „Du sagt fast immer genau das, was man gerne hören will."

„Man?"

„Ich, was ich gerne höre."

„Das klingt bei dir gerade so, als sei das was Besorgniserregendes. Ich sage sowas nicht, weil du es hören willst, sondern weil ich das fühle, Anni." Er sah mich eindringlich an, so als würde er auf eine Art Bestätigung warten. Ich wollte mein Augen abwenden, aber ich schaffte es nicht. Ich versuchte mir immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass wir uns eigentlich fast fremd waren, aber das funktionierte nicht. Nicht bei ihm. Da war Etwas. Etwas zwischen ihm und mir, was mich permanent dazu brachte ihm nahe sein zu wollen. Manchmal war mir diese Energie, diese starke Anziehung nicht geheuer, doch jetzt wo ich neben ihm lag und mein Herz schon so weit geöffnet hatte, kam mir das unlogisch und albern vor. Es war als würde er alles genau verstehen, als würden die Gefühle, die Schmerzen und Verletzungen, aber auch diese Liebe fürs Leben an sich, die wir mit uns herumtrugen, sich extrem ähneln.

„Geht mir auch so.", sagte ich. „Ich fühls auch.", schob ich leise hinterher

„Anni.", sagte er einfach. Sonst nichts. Aber er sagte es auf eine ganz spezielle Art und Weise. Ich war erstaunt, dass mein Name so schön und weich klingen konnte. „Hast du dich nun für eine Wegvariante entschieden?" fragte ich ihn. „Können wir einfach den gleichen Weg zurückgehen?"

„Natürlich, können wir das."

„Und können wir nicht einfach noch ein paar Minuten hier liegen bleiben? "

„Ein bisschen ja, aber die Sonne verschwindet gleich, dann wird es kalt."

„Es gibt Tage die sollten länger dauern, als andere. Findest du nicht?"

„Definitiv, aber muss ja deshalb nicht zu Ende sein. Ich hab nichts Spezielles geplant für den restlichen Tag." Ich versuchte nicht zu erröten. Herrgott, ich war doch sonst nicht so.

„Ist das etwa eine Einladung?" Er strich mit seinen Fingerknöcheln über meine Wange.

„Wenn es eine wäre, nähmst du sie dann an?"

„Lass mich überlegen. Schwierig. Ich bin ja immerzu schwer beschäftigt und ich liebe es andauernd mutterseelenallein in meinem kleinen Zimmer herumzusitzen. Stattdessen müsste ich dann ja meine kostbare Zeit mit dir verschwenden. Was für eine gruselige Vorstellung." Er schüttelte sich und lachte glucksend. Ich zwickte ihn in die Seite und verdrehte die Augen.

„Aua. Natürlich nehme ich sie an. Ich wär ein kompletter Vollidiot, wenn ich das nicht tun würde. "

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