„Geh ruhig. Ich werde mich nicht vom Fleck bewegen." „Besser wär's. Wie kann man denn die fetten Schilder und diese riesigen Hunde übersehen.", murmelte sie kopfschüttelnd und berührte beim Weggehen mit der Schulter meinen Oberarm.

Es dauerte nur ein paar Minuten und Anni kam mit einer braungebrannten, drahtigen Frau mit grauer Kurzhaarfrisur zurück. Die beiden unterhielten sich angeregt. „Karin, das ist der Michi. Michi... Karin.", stellte sie uns einander vor. Ich unterdrückte den Reflex meine Hand auszustrecken und grüßte dann mit dem Abstand, der aktuell eingehalten werden sollte. Ob man sich je dran gewöhnen konnte? „Wir haben Glück, die Karin geht schnell das Stück bis zur Klamm mit und entriegelt das Tor für uns." Ich bedankte mich und erklärte wie sehr ich mich freute. Die Frau nickte freundlich, war aber offensichtlich nicht auf ein Gespräch mit mir aus.

„Was sind das eigentlich für Schafe, die sehen irgendwie anders aus?", fragte ich sie. „Des sind alpine Steinschafe, eine ganz alte Rasse, von denen gibt's nicht mehr viele." Sie freute sich offensichtlich über mein Interesse und ich stellte ihr noch mehr Fragen über die Tiere und ihren Betrieb, die sie alle sehr gewissenhaft und ausführlich beantwortete. Anni sagte die ganze Zeit nichts, hörte aber aufmerksam zu.

Nach ein paar Minuten waren wir am Eingang der Klamm angekommen. Karin entsperrte das Drehkreuz für uns und verabschiedete sich. Ich versicherte ihr, dass ich bestimmt mal vorbeikommen und in ihrem Laden einkaufen würde.

„Was?", fragte ich Anni. Sie musterte mich schon wieder so eingehend, hatte den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und lächelte vor sich hin.

„Nichts. Alles super. Dann lass uns mal starten."

„Ist das jetzt eigentlich gefährlich? Ich deutete auf das Schild. Klamm nur geöffnet vom 01.Mai bis 31.Oktober.

„Ach schau an. Das winzige Schild fällt dir jetzt auf? Aber nein, jedenfalls nicht mehr als an anderen Tagen, das Wetter ist ja noch richtig gut für die Jahreszeit. Es geht da eher um Frost und Tauwetter. Der Weg ist dann eisig und rutschig und es kann dann auch mal vermehrt Steinschlag geben. Im Frühjahr muss dann schon öfter was repariert werden. Aber gerade ist es ok. Sonst hätte Karin uns niemals reingelassen. Ich pass schon auf dich auf, keine Sorge."

„Hab ich jetzt auch einen Bodyguard? So wie die Schäfchen?" Ich klimperte mit den Augendeckeln und brachte sie damit noch mehr zum Schmunzeln. „Brauchst du denn einen?" Wir mussten immer lauter sprechen, weil das Wasserrauschen der Klamm immer näher kam.

„Manchmal vielleicht?" Mein Blick blieb an ihren Lippen hängen und ich dachte daran wie es sich angefühlt hatte sie zu küssen. So weich, so gut, so richtig und gleichzeitig so extrem berauschend. „Na dann ist ja gut, dass ich da bin." Sie legte ihre Hand ganz kurz auf meine Schulter. Selbst diese winzige Geste brachte alles in mir zum Kribbeln. Ich versuchte mich auf den Weg zu konzentrieren. Wir folgten einem Steig aus Holzbohlen über viele Stufen und kleinen Brücken. Das Spektakel unter uns wurde immer ohrenbetäubender und ich wusste irgendwann gar nicht mehr, wo ich zuerst hinschauen sollte. Wasserfälle, Kaskaden, die natürlichen Wasserbecken, das perfekt geschwungene Felsbett und natürlich dieses klare, türkisfarbene und wilde Wasser überall. Über uns, unter uns und um uns herum. Die Luft war feucht und die Gischt quoll wie ein sanfter, kalter Schleier durch die ganze Schlucht. Ich tastete nach Annis Hand, drückte sie, hielt sie fest, während die Wassermassen immer weiter schäumten und brodelten.

Anni

Selbst durch unsere Jacken spürte ich ihn ganz genau. Jede seiner Bewegungen, seine Brust an meinem Rücken, seine Arme und Hände die mich festhielten und sein Kinn auf meiner Schulter, während wir beide auf den tosenden Wimbach hinabblickten. Seine Anwesenheit machte alles noch schöner und beeindruckender. Ich mochte seine naive Begeisterungsfähigkeit, die manchmal fast kindlich wirkte unglaublich gerne. Durch ihn erlebte ich selbst  Dinge und Orte, die ich schon mein Leben lang kannte, anders und neu. Fast noch mehr mochte ich aber die Art wie er mit anderen Menschen umging. Immer so respektvoll, freundlich und zugewandt. Selbst die sonst so spröde Renate hatte er mühelos um den Finger gewickelt. Ja du magst ihn sehr, Anni. Das kannst du nicht abstreiten. Er hatte es sogar geschafft, die Sorgen, die ich mir wegen Mike machte und mit mir herumschleppte, fast zu vergessen. Ich ließ den Gedanken daran schnell wieder los. Er passte nicht an diesen Ort, damit konnte ich mich auch später noch auseinandersetzen. Diesen Tag wollte ich einfach nur genießen, mit allem was er mir anbot. Das Prickeln am ganzen Körper und diese Art von Glücksgefühlen, die ich ewig nicht mehr so intensiv wahrgenommen hatte. Wie gut, dass der Abend gestern so ganz anders verlaufen war und nicht wie ich mir das anfangs vielleicht ausgemalt hatte...Ich schämte mich fast dafür, was meine ersten, etwas anderen Intentionen, Michi gegenüber betraf.  Ich hätte niemals gedacht, dass mich ein bisschen Küsserei und ein paar zaghafte Berührungen, in meinem Alter  noch in einen derartigen Zustand versetzen könnten. Ich fühlte mich wie ein verschossener Teenie, allerdings mit dem Wissen, dass das eine Art Ausnahmezustand war, der in dieser Form nicht anhalten würde. Ich drehte meinen Kopf ein wenig nach hinten. Sofort erschien ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. Ein sanftes, tiefes Lächeln, das bis in seine Augen reichte. Als er mich vorsichtig küsste, wusste ich nicht was lauter rauschte, das Wasser unter uns oder das Blut in meinen Ohren. Wir waren vollkommen allein. Nur er und ich, das Wasser und die Berge um uns herum. Der feine Sprühnebel benetzte unsere Gesichter. Ich legte meine Hände auf seine Wangen. Sie waren eiskalt. Und wie er mich ansah. Ich hätte schon aus demselben grauen Kalkstein sein müssen, wie die blanken Felsen um uns herum, um mich davon nicht erweichen zu lassen. Ich war schlichtweg unfähig ihm und seinem sonnigen, lausbubenhaften Charme zu widerstehen. Er sagte irgendwas, aber ich konnte ihn nicht verstehen, also nahm ich einfach seine Hand und zog ihn weiter. Als wir die Klamm durch die hintere Drehtür wieder verlassen hatten, wurde es mit jedem Schritt leiser, bis nur noch unsere Schritte und das Herabrieseln der Blätter aus den Baumkronen zu hören war. Wir stapften durch den Wald und hielten uns immer noch an den Händen. Ich konnte mir nicht erklären, wie das alles passiert war, woher dieser Mann plötzlich gekommen war und wie er es schaffte meine Gefühlswelt auf den Kopf zu stellen. Ich hätte gern irgendwas Passendes gesagt, aber jeder Satz, jede Frage die ich in meinem Kopf formulierte schien mir entweder zu viel oder zu wenig. „Schön.", sagte er irgendwann einfach nur und streckte den Kopf nach oben, wo ein paar Sonnenstrahlen durch das bunte, herbstliche Blätterdach leuchteten. „ Die Klamm oder der Wald?", fragte ich. „Alles.", antwortete er. „ Einfach alles. Kennst du dieses Gefühl, dieses Bewusstsein plötzlich genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein?" Er sah mich fragend an. „Natürlich kennst du das. Wer wenn nicht du?" Er zupfte an meinem Haaren. Ich lächelte. „Ich weiß was du meinst. Aber das kann man sich nicht erreisen. Es kommt meistens dann, wenn man nicht damit rechnet. Auf einmal macht es Klick und alles scheint möglich..." „Und man wünscht sich, dass es nie aufhört und doch weiß man genau, dass es nicht für immer so bleiben kann.", ergänzte er.

„Gerade das macht es aber doch so besonders. Wenn alles beliebig wiederholbar wäre, würden wir solche Momente viel weniger schätzen. Generell gewinnt Zeit im Laufe des Lebens einen ganz anderen Stellenwert. Zumindest bei mir ist das so. Als ich jünger war, bin ich total verschwenderisch mit meiner Zeit und auch mit besonderen Momenten umgegangen, weil ich so naiv und vielleicht auch überheblich war zu glauben ich hätte so viel davon und Glück ließe sich ausdehnen, wiederholen und festhalten. Aber es ist nun mal nicht so. Allerdings bin ich jetzt manchmal gefährdet es in die andere Richtung zu übertreiben. Mein Leben zu vollzupacken, zu viel sehen und erleben zu wollen. Die Balance zu halten ist nicht immer einfach."

„Ja ich weiß was du meinst.  Aber jetzt gerade in diesem Moment fühle ich mich perfekt in Balance. Ehrlich gesagt hab ich mich lange nicht mehr so lebendig gefühlt, wie...wie mit dir." Verlegen richtete er die Augen auf den Boden.

Das Herbstlaub raschelte unter unseren Füßen. „Pass auf die feuchten Baumwurzeln auf, die sich unter den Blättern verstecken, auf denen kann man leicht ausrutschen.

„Mmm.", machte er.

„Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich weiß nur, dass wenn ich allein hier wäre, es nicht mal halb so schön wär und auch dass ich..., aber", stammelte ich etwas hilflos herum.

„Kann ich dir nicht für den Rest des Tages ein Aber-Verbot erteilen?" Er seufzte.

Ich öffnete den Mund um was zu sagen, ließ es dann aber bleiben.

„Ich weiß du denkst du kennst mich nicht gut genug, aber ..."

„Wenn ich nicht aber sagen darf, dann gilt das ab...dann gilt das auch für dich." Ich tippte mit dem Zeigefinger an seine Brust.

Er seufzte nochmal ließ die Hände sinken und sah mir in die Augen. „Was willst du von mir wissen, Anni? Frag einfach."

„ Ist schon ok. Ich werde schon noch herausfinden wer du bist und ob du immer so bist."

„Wie bin ich denn?"

„Fast zu perfekt."

„Perfekt? Ich??" Er lachte laut. Dann zog er die Augenbrauen zusammen. „Glaub mir. Ich bin alles andere als perfekt. Wie kommst du auf so was?"

„Nun jeder hat natürlich irgendwo Fehler und Schwächen, aber ich mag einfach sehr wie du mit Menschen umgehst. Du hast irgendwas an dir, das anscheinend jeden dazu bringt dich zu mögen."

„Dich auch?"

„Wär ich sonst hier? Normalerweise würde ich mich fragen, ob du ehrlich und echt bist oder ob das nur irgendeine raffinierte Masche ist und wär total misstrauisch. Aber ich bin es nicht. Das ist entweder ein sehr naiver, dummer Fehler von mir oder du bist wirklich so, wie ich denke, dass du bist"

„Und was denkst du genau?"

„Ich denke, dass du ein extrem netter Mensch bist."

„Nett klingt aber sehr langweilig."

„Finde ich nicht. Ich mag nette Menschen."

„Jeder mag nette Menschen. Ich finde dich auch nett, Anni."

„Ok du hast Recht, das klingt wirklich etwas beliebig und dürftig. So hab ich das nicht gemeint. Klingt es besser wenn ich sage, dass ich annehme, du bist ein von Grund auf guter und interessanter Mensch und dass ich gerade nirgendwo lieber wär als hier mit dir?"

„Wirklich nirgendwo? An keinem anderen Ort auf der Welt? Bist du sicher?" 

„Mmm lass mich überlegen, ich liebe Bali, Schweden und Kanada. Ich war noch nie in Neuseeland und ich wollte auch schon immer mal..." Ich schürzte dir Lippen nachdenklich und bemerkte wie seine Miene sich ungewollt ein wenig eintrübte.

„Quatsch." Ich drückte seine Hand. „Wenn ich sage nirgendwo, meine ich auch nirgendwo." Ich blinzelte an ihm vorbei in die Sonne, die weit weniger Kraft besaß, als noch vor zwei Wochen, aber sie war da und bei jedem Schritt duftete es nach Wald. Nach Harz, Moos und nach Heimat. All diese großen Begriffe gingen mir durch den Kopf. Heimat, Freiheit, Liebe. Sie flatterten um mich herum wie zarte, schillernde Schmetterlinge und ergaben auf einmal einen logischen Gleichklang. 

Wo wir frei sindHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin