Wo wir frei sind

19.

War es denn so schlimm?

Nein, im Gegenteil. Es war ...

Es war was?

Ich kann es nicht gut ausdrücken. Im Nachhinein kommt es mir fast wie ein Traum vor.

Sind Nachfragen zugelassen?

Nein, abgelehnt. Ich beantworte sie dir aber. Ein Gast, also nicht irgendein Gast. Wir haben öfter schon ein bisschen Zeit miteinander verbracht und ich finde ihn extrem nett und...

Und was? Du küsst doch nicht jeden Menschen den du einfach nur nett findest, Anni? Seit ich dich kenne, hast du das noch nie getan oder mir zumindest nichts davon verraten. Also gibt es doch sicher Gründe, warum du das gerade jetzt  getan hast oder war das nur so eine Art impulsive Übersprungshandlung?

Na ja. Da ist permanent so eine Spannung zwischen uns, das macht einen wirklich verrückt und er ist halt schon sehr ...sehr anziehend irgendwie. Vielleicht bin ich einfach schon zu lange allein und die ganze Situation...

Wen versuchst du zu überzeugen? Dich oder mich? Ist doch schön für dich. Genieß es doch einfach. Wo liegt das Problem?

Ich weiß nicht. Ich kenn ihn ja kaum. Vielleicht ist er  ja in Wahrheit verheiratet und hat eine Familie oder er hat irgend ein anderes Geheimnis, alles klingt immer etwas schwammig und nebulös, wenn ich frage.

Du denkst er ist nicht ehrlich?

Ich überlegte. Nein eigentlich denke ich das nicht, eher so dass er gewisse Dinge nicht preisgeben will.

Wo ist dann dein Problem, Anni? Lern ihn doch besser kennen, wenn du das willst und finde heraus was du wissen musst. 

Irgendwie klang er anders als sonst. Distanzierter. Mir fehlte sein liebevoller, scherzhafter und verständnisvoller Unterton. Mir kam es fast so als würde ich ihn nerven. So war Mike sonst nie. Ich vermisste unsere Dialoge schon seit Tagen und umso enttäuschter war ich gerade jetzt, weil ich ihn echt gebraucht hätte.

Du hast sicher Recht. Ich werde einfach mal eine Nacht drüber schlafen.

Mach das, Annie. Schlaf gut.

Ja du auch. Gute Nacht.

Als ich mein Handy weglegte, hallte noch immer seine Frage in meinem Kopf herum. Wo ist dein Problem? Vielleicht bei dir, dachte ich. Du bist gerade mein Problem. Ich dachte irgendwie wir beide, das wär so vertraut, dass ich dir alles anvertrauen könnte und nun reagierst du so kalt und fast gleichgültig.

Es belastete mich immer noch. Ich nippte an meinem Kaffee und wischte auf meinem Handy herum. Erst jetzt bemerkte  ich die Nachricht, die er mir gestern noch geschickt haben musste.

Es tut mir leid, Annie. Ich bin einfach nur sehr müde und hab tausend Sachen im Kopf. Ich wollte nicht unsensibel sein. Ich wünsche dir, was immer du dir selber wünschst. Vielleicht suchst du ja gar nicht nach einem warum, sondern nach Gründen die dagegen sprechen, weil es dir Angst macht? Kann sein, dass ich ab morgen ein paar Tage offline bin. Wir wollen einen längeren Ausflug machen und da ist es etwas abgelegen. Danach bin ich wieder für dich da, ja?  Sei mir bitte nicht böse. Hab dich lieb.

Was war nur los mit ihm? Beim lesen war mir eiskalt geworden und erst bei seinem letzten Satz ließ das wieder nach. Doch irgendwas stimmte nicht. Mir fielen die verschiedensten Möglichkeiten ein. Vielleicht ging es ihm gesundheitlich nicht gut und er verheimlichte mir das oder aber er war tatsächlich eifersüchtig. Ich fragte mich wie ich es andersherum finden würde, wenn ... Vielleicht war sein Freund ja auch in Wahrheit eine Freundin? Der Gedanke gefiel mir überhaupt nicht . Er tat fast ein bisschen weh. Das schlimmste aller Szenarien, das ich mir ausmalen konnte, war aber, dass er sich mit Corona angesteckt haben könnte. Als Stammzellentransplantierter gehörte er zur Hochrisikogruppe und ich war mir nicht sicher ob er mir das sofort mitgeteilt hätte. Möglicherweise wollte er mich nicht beunruhigen. Ich war so in meine  Gedanken vertieft, dass ich das zaghafte Klopfen an der Tür fast überhört hätte.