Annie

Die Wärme der Sonne tat unwahrscheinlich gut. Meine Arbeiten für heute waren schon so gut wie erledigt und ich hatte unerklärlich gute Laune. Vielleicht weil ich unsagbar gut geschlafen hatte. Ich fühlte mich nach meinem emotionalen Ausbruch gestern, wie befreit. Manchmal war es wirklich gut in den Schmerz hineinzugehen, um sich dann Stück für Stück von ihm lösen zu können. Aber heute war kein Tag für schwere Gedanken. Ich sehnte mich nach Leichtigkeit und schönen Dingen. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und wollte die Nase wieder in mein Buch stecken, als ich Michi bemerkte der aus dem Haupteingang spazierte. Unweigerlich musste ich an heute früh denken und wie er mich verwirrt hatte. Einen Momentlang hatte er mich wirklich aus dem Konzept gebracht. Seine Stimme und seine Augen, die sich an meinem Gesicht regelrecht festsaugten. Seine Haare waren nass und er stand so nah vor mir, dass ich sein Duschgel riechen konnte. Irgendein stinknormaler Männerduft, nichts Besonderes. Trotzdem war da ganz plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde, irgendwas zwischen ihm und mir. Eine Art körperliche Anziehungskraft, die sich nur schwer ignorieren ließ. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber es machte den Eindruck, dass nicht nur ich das gespürt hatte. Egal dachte ich. Sowas kann vorkommen. Du kannst ihn ja gut finden, das tut niemandem weh. Du fühlst dich wahrscheinlich einfach nur einsam."

Er entdeckte mich und kam direkt auf mich zu. „Hey, du hattest Recht. Auf deine Prognosen ist echt immer Verlass." Er schenkte mir ein Lächeln, das wahrscheinlich auch Gletscher zum Schmelzen bringen konnte. Annie, hör jetzt sofort auf damit. - schalt ich mich selbst.

„Das ist nur eine gute Wetter-App gekoppelt mit etwas Erfahrung." Ich zuckte mit den Schultern.

„Was liest du da Schönes?"

„Ein Buch mit Reiseberichten."

„Suchst du Inspiration?"

Vielleicht auch das, aber es ist mehr dieses Mitreisen im Kopf, wenn ich es in der Realität schon nicht ausleben kann.

„Darf ich? Er deutete auf den Stuhl neben mir.

„Klar."

„Was war deine schönste Reise und wohin?"

„Puh, das ist schwer zu beantworten. Da müsste ich eine Weile darüber nachdenken. Es gibt da einige die in Frage kommen."

„Und spontan aus dem Bauch heraus? Ohne Nachdenken?"

„Eine Alpenüberquerung, die ich vor vielen Jahren gemacht habe. Die war einzigartig, auch wegen der Menschen die dabei waren. Im Nachhinein wünschte ich mir ich hätte jede einzelne Sekunde noch mehr genossen. Es war die letzte Reise, die letzte Tour, mit meinem Bruder."

„Mit Jakob?

„Nein mit meinem anderen Bruder."

„Ach, du hast zwei Brüder?"

„Hatte."

„Scheiße, das tut mir leid. Ich wollte nicht." Er sah mich mitfühlend an und einen Moment lang hatte ich den Eindruck, er wollte seine Hand tröstend auf meine legen.

„Schon ok. Das ist schon echt lange her. Was hast du vor? Gehst du eine Runde." Ich deutete auf seine Wanderschuhe.

„Ja ich glaube schon. Das Wetter nutzen, solang es so schön ist"

„Und wo willst du hin?"

„Weiß nicht. Hast du einen Tipp für mich?"

„Mmm, ich wollte noch hoch zu unserer Alm und nach dem Rechten sehen. Wenn du willst, kannst du mitkommen. Ist nicht so arg weit, aber ich müsste mich erst noch umziehen."

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