6 - Der Gast

0 0 0
                                    

 Als Aliana die Augen aufschlug, fand sie sich im schneidersitz auf einem flachen Stein sitzend wieder. Sie blickte vor sich auf einen plätschernden Bach, der sich um Farne und mit Moos überzogene Steine wand. Er glitzerte im Sonnenlicht.
Aliana sah sich um und bemerkte einen Wildpfad, der direkt an ihrem Stein vorbei führte. Sie selbst befand sich auf einer kleinen Lichtung. Die Bäume um sie herum standen unregelmäßig und mit viel Luft dazwischen, sodass sie weit in den Wald hinein schauen konnte.
Es war kein Tier zu sehen, aber sie hörte Vogelgezwitscher und das Rascheln von Blättern. Von irgendwoher war leises quieken zu hören, von dem Aliana fand, dass es sich zufrieden anhörte.
Sie wusste zwar nicht, wie sie hierher gelang war, wollte dem aber auch nicht auf den Grund gehen, denn gerade fühlte sie sich sehr wohl und entspannt. Der Wald (es konnte nur der Thun sein, da war sie sich sicher), wirkte friedlich auf sie. Zwar drängte sich irgendwo in ihrem Hinterkopf auch ein unbehagliches Gefühl auf, doch sie schob es bei seite. Sie wollte sich nicht jetzt damit befassen.

Ein dumpfes Geräusch ließ Aliana aufhorchen. Es wiederholte sich in einem beinahe bekannten Rythmus. Hufschläge? War ihr jemand hierher gefolgt? Sie sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Das Geräusch kam stetig näher. Sie drehte den Kopf, um die Richtung auszumachen. Dann gesellte sich auch ein Rascheln hinzu und sie war sich fast sicher, dass das Geräusch von ihr gegenüber kam.
Sie spähte angestrengt in den Wald und sog überrascht die Luft ein, als ein riesiges Geweih hinter einem der Bäume hervor kam. Es besaß so viele Verästelungen, dass sie sie kaum zählen konnte. Kleine Vögel tobten darin umher.
Das Geweih schmückte einen Schädel, so groß wie ihr Oberkörper, der von einem Tier getragen wurde, dass sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es besaß große Ähnlichkeiten mit einem Hirschen, aber dann auch wieder nicht. Und er überragte sie um mehrere Köpfe. Sein braunes Fell schimmerte beinahe golden und alle Pflanzen, die er berührte, schienen grüner zu werden.

Aliana dachte, das Tier würde vorbeischreiten, doch es änderte seinen Kurs und steuerte auf den Bach zu.
Vielleicht hat es Durst?, überlegte sie und verhielt sich ganz still.
Das gewaltige Tier schritt heran und senkte seine Nase ins Wasser.
"Du bist also endlich zurückgekehrt."
Vor Schreck keuchte Aliana auf.
Wer sprach da?
Das Tier vor ihr hob den Kopf und sah sie an.
"Sie haben dich lange vor mir versteckt. Aber ich wusste, dass sie es nicht ewig konnten."
"Du... du sprichst?", wisperte Aliana.
"Natürlich."
"Das... das ist ein Traum."
"Ja, das ist es. Aber nicht so, wie ein normaler Traum. Du bist hier in Nifil. Dem Herz von Thun. Hier ist meine Heimat. Wer hierher kommen darf, bestimme nur ich. Heute habe ich deinen Geist zu mir gerufen, um dich mit eigenen Augen sehen zu können. Ich spürte deine Anwesenheit nur so kurz, aber es hat gereicht, um in deine Träume zu gelangen."
"Das ist gruselig! Was soll das alles?"
"Wir haben nicht genügend Zeit, um dir alles zu erklären. Je weiter du vom Thun entfernt bist, desto schwächer ist unsere Verbindung. Du entschwindest mir. Komm in den Wald. Warte nicht zu lange."

Aliana erwachte in ihrem Bett, den Geruch des Waldes noch in der Nase und zweifelte an ihrem Verstand. Draußen vor den Fenstern begann die Sonne über den Horizont zu klettern. Die Zimmermädchen würden sowieso bald auftauchen, um sie zu wecken, also beschloss Aliana, aufzustehen. Ihre Kleider lagen ordentlich gefaltet in einer Truhe am Fußende des Bettes. Ihre Eltern hatten die Truhe schon mitgenommen, weshalb ihr der Überfall der Diebe erspart geblieben war.
Aliana entschied sich für ein hellblaues Kleid mit beiger Schnürung und wartete geduldig auf die Zimmermädchen. Sie nahm sich vor, sich bei der Jüngeren für ihr gestriges Verhalten zu entschuldigen. Sie sollte wenigstens hier einen guten Eindruck machen. Irgendeinen Haushalt musste sie ja in Zukunft übernehmen.

Einige zeit später betrat Aliana den Speisesaal der Familie. Am Tisch saßen ihre Eltern und ihre Mutter redete gerade auf ihren Vater ein.
"Aliana!"
Ihr Vater stand schwungvoll auf und unterbrach damit den Redeschwall ihrer Mutter. Er war am gestrigen Abend nicht zugegen gewesen, aber zweifelsohne hatte ihre Mutter ihn über die Vorfälle in Kenntnis gesetzt. Er kam auf sie zu und legte seine Hände auf ihre Schultern.
"Geht es dir sicher gut?"
"Ja, Vater. Mir fehlt nichts.", versicherte sie ihm und lächelte.
"Gut. Gut. Wir werden die Wachen verdoppeln. Und du wirst nur noch in Begleitung das Haus verlassen. Und nähere dich nicht dem Wald, ehe wir dieses Problem nicht beseitigt haben, verstanden?"
"Ja... aber es ging doch nicht um mich bei diesem Überfall. Sie wollten den Schmuck."
Ihre Eltern wechselten einen kurzen Blick.
"Man kann nicht vorsichtig genug sein."

Die Unterhaltung und das angrenzende, kurze Frühstück verursachten bei Aliana ein merkwürdiges Gefühl. Sie wollte ihren Eltern nichts unterstellen, aber sie konnte nicht umhin zu glauben, dass man ihr nicht die ganze Wahrheit sagte.

Dass man ihr aber tatsächlich etwas vorenthielt wurde erst kurz nach Mittag klar. Aliana saß auf einer kleinen Bank auf der Terrasse und laß im Sonnenlicht, als sie hinter sich die Tür hörte. Die Absätze ihrer Gouvernante klackerten über den Holzboden. Normalerweise würde Elaine Aliana nicht beim Lesen stören. Doch nun setzte sie sich gegenüber auf einen Sessel und blickte Aliana wartend an.
"Was gibt es?", fragte sie, ohne den Blick vom Buch zu heben.
"Die Herrin Lombard erwartet Eure Anwesenheit am Eingang für den Empfang einer Kutsche."
Elaine kräuselte leicht die Oberlippe und schaffte es nicht, es rechtzeitig zu überspielen. Aliana blickte ihre Gouvernante nachdenklich an. Wenn sie etwas missbilligte, sollte sie selbst auch auf der Hut sein.
"Ich werde mich sofort auf den Weg machen.", sagte Aliana und legte das Buch zur Seite.

In der Empfangshalle traf Aliana auf ihre Eltern. Dass ihr Vater einen Gast persönlich in Empfang nahm verstärkte Alianas Misstrauen. Normalerweise ließ er den Besuch in einem Separè warten und gesellte sich dann nach passender zeit dazu. Er pflegte zu sagen, so zeigte man seine Überlegenheit.
Doch jetzt stand er hier mit seiner Frau und einigen Dienern.
"Ah, ALiana, komm, stell dich zu uns. Unser Gast trifft jeden Augenblick ein."
"Was ist das denn für ein Gast?", fragte sie und nahm eine würdevolle Haltung ein.
"Ein Besonderer."
Aliana unterdrückte ein Seufzen. So weit war sie auch schon.
Sie folgte ihren Eltern nach draußen, als die Tore eine schwarz lackierte Kutsche herein ließen, die von vier weißen Pferden gezogen wurde. Aliana wurde heiß und kalt. Dieser Gast war reich und besaß Einfluss.
Die Kutsche hielt vor der Treppe. Ein Diener wartete dort und öffnete die Tür mit einer tiefen Verbeugung. Aliana hielt die Luft an, als ein junger Mann in weißem Anzug erschien. Mit einer eleganten Bewegung stieg er aus der Kutsche und erklomm die vier Stufen zum Portal. Sein blondes Haar glänzte im Sonnenlicht und seine markanten Züge verursachten bei Aliana Atemprobleme. In der Hand hielt er zwei Dinge: ein kleines Kästchen und Blumen.
Oh nein.
Aliana hatte keine Zeit, ihrem Vater einen bösen Blick zuzuwerfen, als der Gast auch schon vor ihr stehen blieb.
"Miss Aliana Lombard, ich bin Damien von Zorfen. Bitte nehmt diese Geschenke als Versprechen meinerseits, euch zu ehelichen."

Verdammt.

You've reached the end of published parts.

⏰ Last updated: Apr 25 ⏰

Add this story to your Library to get notified about new parts!

Das Wilde VolkWhere stories live. Discover now