1 - Aufbruch

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"Miss Aliana! Wo bleibt Ihr um Himmels Willen?"
Die Stimme der Gouvernante schallte durch die Gänge des Anwesens der Familie Lombard. Das  etwa zweihundert Jahre alte Gebäude befand sich am Rand von Chester, einer florierenden großen Stadt. Es thronte auf einem sanften Hügel inmitten des Reichenviertels. Mit seinen sechs Schlafzimmern, zwölf Bädern und an die zwanzig Bediensteten zählte es aber zu den eher kleineren Herrenhäusern.

Die Absätze der Gouvernante klapperten hektisch über den hellgrauen Marmor und hallten von den glatten, mit Ölgemälden verhangenen Wänden wider. Den weiten beigefarbenen Rock mit den Händen raffend, eilte sie die marmornen Stufen hinauf in den zweiten Stock. Hier im Westflügel lagen die privaten Räume der Familie Lombard. Noch vor zwei Jahren waren all diese Zimmer belegt gewesen. Doch die Kinder von Herr und Herrin Lombard erreichten das heiratsfähige Alter und ein Kind nach dem anderen verließ das Nest. Nur Miss Aliana, die jüngste der vier Geschwister, war geblieben. Bis jetzt.
Die Herrschaften Lombard hatten sich dazu entschlossen, ihren Familiensitz an den jüngeren Bruder Alix abzutreten und sich auf den Landsitz nach Fort Elinton zurückzuziehen. Dies schloss die unverheiratete Miss Aliana mit ein.
Die Hochzeit des jungen Herren Alix und seiner Gemahlin war vergangene Woche mit einem monumentalen Fest gefeiert worden und besiegelte im gleichen Schritt die Überschreibung des Gebäudes. Die Herrschaften Lombard waren am gestrigen Tag in Richtung Landsitz aufgebrochen. Man hatte Miss Aliana einen weiteren Tag gegeben, um zu packen und sich von allen zu verabschieden.
Nun war es an der Zeit, zu fahren. Die Kutsche stand bereit und wartete. Doch Miss Aliana schien vom Erdboden verschluckt. Doch nach nunmehr zwölf Jahren in dem Dienst der Lombards kannte die Gouvernante ihren Schützling ganz genau. Sie betrat einen kleinen Lesesaal und betätigte den versteckten Hebel im Bücherregal, um die geheime Tür zu öffnen. Dahinter verbarg sich eine Wendeltreppe, die ein halbes Stockwerk höher auf einen kleinen Balkon führte.

Aliana stand an der Balustrade des kleinen Balkons und ließ ihren Blick über das Anwesen schweifen. Die Sonne schien warm auf sie herab und ließ den fein säuberlich angelegten Garten in den prächtigsten Farben erstrahlen. Sie erinnerte sich, wie sie mit ihrer Freundin Madlene durch den Garten getobt war als Kind. Wenn sie den Blick hob konnte sie hinter den Bäumen das Herrenhaus ihrer Familie sehen. Madlene war vor etwa einem halben Jahr mit ihrem frisch angetrautem Ehemann nach Brexton gezogen. Es dauerte fast zehn Tage nach Brexton. Zu weit weg, für einen schnellen Besuch. Sie schrieben sich Briefe, aber das war nicht das Selbe.
Und nun sollte sie selbst fort gehen.
Sie hatte nie ernsthaft damit gerechnet, dass sie das Anwesen erben würde. Doch als Jüngste hatte sie sich große Hoffnungen gemacht. Es war Tradition, das Anwesen an den jüngsten Erben abzugeben und sich selbst entweder in eines der Landhäuser zurückzuziehen oder von den Kindern ausgehalten zu werden. Doch anscheinend traute man Aliana die Führung des Hausstabs nicht zu. Wieso sonst hätten ihre Eltern sich für Alix entschieden?
Es hieß, seine Frau hätte schon mit vierzehn die Pflichten ihrer Mutter übernommen, als diese schwer krank wurde. Sie hatte sich den Respekt des Stabs und der Gesellschaft verdient.
Aliana seufzte.
Würde man ihr jemals etwas zutrauen? Würde man sie jemals respektieren?

"Miss Aliana."
Die keuchende Stimme der Gouvernante holte Aliana aus ihren Gedanken. Sie wandte sich um und blickte der Frau offen entgegen.
"Der Abschied fällt mir schwer, Elaine.", rechtfertigte sie sich.
Die Gouvernante, immernoch außer Atem, winkte Aliana zu sich.
"Die Kutsche... steht bereit. Wir sollten... sollten sie nicht warten... lassen."
Aliana nickte, hob ihren breiten Hut auf und versteckte die hochgesteckten nussbraunen Haare darunter. Damit war ihr grünes Reiseoutfit komplett.
Sie folgte der Gouvernante zurück durch das Haus und sog bedächtig alles in sich hinein. Sie wollte sich alles einprägen, um nie etwas zu vergessen. Denn wer wusste schon genau, wann sie die Gelegenheit bekäme, das alles wiederzusehen?
Vor der überdachten Marmortreppe wartete wie angekündigt die Kutsche. Die Bediensteten, die Aliana laut Protokoll verabschieden sollten, saßen auf dem Boden oder lehnten an der niedrigen Mauer, die Garten und Empfangsbereich trennte. Sie musste ihre Abreise wirklich lange hinausgezögert haben. Das war nicht ihre Absicht gewesen, als sie sich für einen letzten Blick vom Balkon entschieden hatte.
Die Gouvernante räusperte sich leise und ließ die Bediensteten hastig aufspringen. Im Folgenden wurde Aliana von Glückwünschen für ihre Zukunft nur so überhäuft. Sie setzte eine freundliche Maske auf und erwiderte diese mit höflichen Floskeln. Sie hatte nie eine enge Bindung zu diesen Menschen aufgebaut. Vielleicht war dies auch ein Grund, dass sie ihr Elternhaus an ihre Schwägerin verlor.
Als die Tür der Kusche zufiel, entließ Aliana seufzend die ganze Luft aus ihren Lungen und ließ zu, dass ihre Haltung in sich zusammensackte, was ihr einen missbilligenden Blick von der Gouvernante einbrachte.
"Wir sind unter uns, Elaine.", verteidigte sie sich.
Die Gouvernante erwiderte nichts darauf, sondern kramte ein kleines Büchlein hervor, in dem sie auf Reisen immer las. Aliana beneidete sie darum. Ihr wurde beim Lesen in der Kutsche immer schlecht.

Das Wilde VolkTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon