2 - Unangenehme Begegnung

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Der Weg von Chester nach Fort Elinton führte durch mehrere kleine Städte, denen die beiden Frauen keine größere Beachtung schenkten. Ihr Kutscher folgte den löchrigen Wegen langsam genug, als dass die Frauen nicht zu sehr durchgeschüttelt wurden, aber schnell genug, um eventuelle Übergriffe zu vermeiden. Zum Glück waren sie nicht alleine unterwegs. Ihre beiden berittenen Begleiter schreckten allzu neugierigen Pöbel weitestgehend ab.
Aliana fühlte sich jedes Mal unwohl, wenn sie die ärmeren Gebiete durchquerten. Sie ließ jedes Mal ihren Vorhang zu, damit sie nicht in die vorwurfsvollen Augen blicken musste. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob man die Bedingungen für die Menschen nicht irgendwie verbessern könnte. Doch was sollte sie schon ausrichten können?

Nach einem langen Stück über weite Ebenen erreichten die beiden Frauen den letzten großen Ort vor Fort Elinton. Die Stadt Nielburg war nur unwesentlich kleiner als Chester und in den letzten Jahren stark gewachsen. Sie lag an einer der wenigen Brücken über den Fluss Naal und an einer wichtigen Handelsroute.
Der Markt war größer, als alle, die Aliana je gesehen hatte. Normalerweise hielten sie für eine Weile und stöberten durch die vielfältigen Stände. Doch heute trieb der Kutscher die Pferde unermüdlich durch das Gedränge.
"Wieso halten wir heute nicht?", wollte Aliana wissen.
"Eure Eltern erwarten Euch heute zum Sonnenuntergang im Landhaus. Wir haben keine Zeit für längere Pausen."
"Aber der Rest des Weges geht doch schnell. Bitte Elaine!"
Die Gouvernante warf der jungen Frau einen missbilligenden Blick zu. Sie mochte es absolut nicht, wenn Miss Aliana bettelte. Das gehörte sich einfach nicht für eine junge Dame!
Doch Aliana ließ nicht locker. Sie kannte ihre Gouvernante jetzt schon lange genug, um zu wissen, wie sie ihren Willen bekam. Also schmollte sie weiter und blickte die ältere Frau mit einem traurigen Blick an. Schließlich brach ihr Widerstand.
"Nun. Ich denke, einen kurzen Blick könnten wir uns erlauben."
"Wunderbar! Kutscher! Wir halten!"

Der Markt summte von den vielen Geräuschen. Marktschreier priesen ihre Waren an und Kunden stritten sich um Preise. Dazwischen mischten sich die Laute der Nutztiere. Es roch nach Gewürzen und weniger appetitlichen Dingen. Aliana war jedes Mal überwältigt von den Sinneseindrücken. Es gab so viel zu sehen und sie konnte sich nie entscheiden, wohin sie zuerst wollte. Und da sie nur einen kurzen Aufenthalt hatte, konnte sie sich noch weniger entscheiden. 
Schließlich ließ sie sich nur treiben, folgte einigen tratschenden Weibern und kehrte dann in einem Bogen wieder zur Kutsche zurück.
Kaum kam sie in Sichtweite der Kutsche, sah sie, dass die Tür offen stand. Sofort sah sie sich nach ihren Begleitern um. Der Kutscher saß auf seinem Bock und rauchte. Der eine Wachmann stand bei den Pferden. Der andere folgte ihr wie ein Schatten. Aliana ging davon aus, dass Elaine schon wieder zurückgekehrt war und schritt selbstbewusst auf ihre Kutsche zu.
"Elaine? Ich bin wieder zurück. Leider gab es keine... Ahh!"
Erschrocken taumelte Aliana zwei Schritte zurück, als ein kleiner Junge aus der Kutsche geflitzt kam. Beinahe wäre sie gestolpert, bekam aber gerade noch die Tür der Kutsche zu fassen. 
Ihr Begleiter sprang vor und erwischte den Jungen am Arm.
"Loslassen!", verlangte der Junge und stemmte sich gegen den festen Griff des Mannes.
"Erst sagst du mir, was du in der Kusche zu suchen hattest!"
"Ich... war neugierig! Ich hab nichts getan!"
Die Schreie des Jungen machten den halben Markt auf sie aufmerksam. Aliana sah Elaine auf sich zueilen.
"Miss Aliana, seid Ihr verletzt?", wollte die Gouvernante wissen.
Aliana schüttelte den Kopf.
Sie beobachtete, wie ihre Begleiter den Jungen in ihre Mitte nahmen. Gemeinsam durchsuchten sie die Taschen des Jungen, fanden aber nichts.
"Er hat nichts gestohlen.", informierte der eine Begleiter.
"Sag ich doch! Ich war nur neugierig! Hier kommen so oft Kutschen lang, ich wollte schon immer mal eine von innen sehen!", verteidigte der Junge sich.
"Lasst ihn gehen.", verlangte Aliana.
"Ihn gehen lassen? Wer weiß, was er vor hatte? Wir sollten ihn eurem Vater überstellen.", riet Elaine.
"Er ist doch nur ein Kind."
Sie gab den Begleitern ein Zeichen und diese ließen den Jungen los. Einen Wimpernschlag später war er schon in der Menge verschwunden.
Um sie herum starrten die Marktbesucher sie an, als sei sie ein bunter Hund. Kinder versteckten sich hinter den Röcken ihrer Mütter. Männer bauten sich zwischen ihnen auf. Das Signal der Menschen war eindeutig.
"Wir sollten gehen.", schlug Elaine vor und Aliana stimmte dem nur zu gerne zu.
Die beiden Frauen zogen sich in die Kutsche zurück, wo Aliana sofort ans Fenster rutschte. Durch die weiße Gardiene sah sie die misstrausischen Blicke der Marktbesucher.
"Können wir jemals wieder hier her kommen, ohne dass sie uns anstarren?", fragte sie.
Die Gouvernante holte eine Kiste unter der Bank hervor und öffnee den Deckel.
"Gebt ihnen einen Mond und sie werden es vergessen haben. Wenn Ihr Pech habt, werden sie in den Tavernen noch ein wenig länger reden, aber die Menschen werden schnell wieder ihren Geschäften nachgehen. Und in so einer großen Stadt passiert genügend Neues, als dass man die Geschichte noch lange ausschlachten müsste.", erklärte sie, während sie den Inhalt der Kiste durchwühlte. Schmuck klimperte leise.
"Er scheint wirklich nichts an sich genommen zu haben.", fügte sie hinzu.
"Dann ist es ja gut, dass wir nicht noch mehr Theater gemacht haben. Das wäre mir vor Vater sehr peinlich."
"In der Tat. Ihr habt gut gehandelt. Ihr seid bald bereit für einen eigenen Hausstaat."
"Ich hätte beinahe einen gehabt.", murrte Aliana, während sich die Kutsche durch das Gedränge schob. Schon nach einigen Metern hörten die Blicke auf und sie lehnte sich vom Fenster zurück an die gepolsterte Bank.
"Ihr wisst genau, warum euer Bruder diese Gunst gewonnen hat."
"Ja...", murmelte Aliana. "Wegen der ach so perfekten Mrs. Alix."
"Miss Aliana, ich darf doch sehr bitten.", schalt die Gouvernante.
Doch Aliana kannte die Frau lang genug, um den amüsierten Unterton herauszuhören.
"Du weißt, dass ich Recht habe, Elaine."
Die angesprochene nahm ihr Buch vom Sitz hoch und klappte es auf.
"Nein, Miss. Ich fürchte, ich verstehe nicht.", sagte sie nun mit offener Ironie und widmete sich ihrem Buch.
Aliana schmunzelte und richtete ihren Blick wieder nach draußen, wo das Stadttor in Sicht kam.

Das Wilde VolkWhere stories live. Discover now