Aber auch seine ungeteilte Aufmerksamkeit berührte mich. Als ich einmal kurz vor dem Klingeln atemlos in den Raum hetzte, mit meinem halboffenen Rucksack über der Schulter und ihm dann zurief: „Omg ich muss dir etwas erzählen!", ließ er alles stehen und liegen und sagte: „Schieß los". Das „Schieß los" war sein Markenzeichen. Er sagte es jedes einzelne mal, wenn ich ihm etwas mitteilen wollte, egal wie wichtig es auch erscheinen mochte:

„Hey, Lena wurde von dem Direktor ins Büro geholt, soll ich dir sagen, worum es ging?"

„Schieß los"                                           

„Gestern sind zwei Motorräder vor unserer Schule zusammengestoßen. Einer aus unserer Stufe ist fast daran gestorben! Ich weiß sogar, wer!"

„Schieß los"

„Kay Kaleschky hat sich als Weihnachtsmann verkleidet, ist jodelnd durch das Sekretariat gerannt, hat Bonbons auf die Schüler geworfen und weißt du was die Reaktion von dem Schulleiter war?"

„Nein, schieß los!"

Andererseits schämte ich mich auch oft für ihn. Er war laut und sprach so schnell, dass ihn kaum einer verstand. Wegen seines aggressiven Ganges sah man ihn schon von Weitem. Er diskutierte häufig mit den Lehrern, stellte komplizierte Fragen und lachte im Unterricht ohne Grund laut los. Das war mir manchmal so unangenehm, dass ich wegschauen musste. Die anderen verurteilten mich wahrscheinlich im Stillen, dass ich mit so jemandem meine Zeit verbrachte. Ich dachte, er stand auf mich, aber ich war mir nicht sicher. Wenn die anderen nur wüssten, dass ich ihn toll fand. Ich hätte mich in Grund und Boden geschämt. Aber ich glaube, sie ahnten es bereits.

Denn an einem Tag in der ersten Pause gab es einen Vorfall. Ich bin zusammen mit Timur, Sophie und Hannah über den Schulhof gegangen. Ich habe die Blicke der anderen gespürt, sie hielten uns wahrscheinlich für verrückt, da wir mit dem Außenseiter Timur abhingen. Uns machte es eigentlich nichts aus und wir redeten und lachten die gesamte Zeit. Bis Detlev, mein alter Grundschulfreund, den ich überhaupt nicht mehr leiden konnte, und seine nervigen Freunde aufkreuzten. Sie sahen uns, blieben stehen und fingen auf einmal an, verhalten zu lachen. Sie schauten mich dabei an und boxten sich gegenseitig in die Seiten. Mir war es peinlich und ich wurde rot. Ich entschuldigte mich mit einer gemurmelten Ausrede und verließ mit gesenktem Kopf den Hof. Zum Glück klingelte es zum Unterricht.

Aber dieses Ereignis hielt mich nicht auf, weiter mit Timo zu sprechen.

Trotzdem war er für mich etwas Besonderes. Ich traute mich nicht einmal, ihn um seine Nummer zu fragen, so ehrfürchtig war ich. Um aber an sie heranzukommen, fragte ich meine Freundin Hannah, die mit ihm in einer Klasse war. Sie schickte mir seine Nummer und unter dem fadenscheinigen Vorwand, die Hausaufgaben in Biologie nicht mitbekommen zu haben, schrieb ich ihn an. Von da an schrieben wir fast jeden Tag. Eigentlich nur über Schule und Tests, aber nach einiger Zeit wurde es intimer. Wir schickten uns Nachrichten über persönliche Dinge, wie die Probleme, die wir aktuell hatten. Eines Tages rief ich ihn sogar an. Wir sprachen über dies und das.

Das Gespräch entpuppte sich als eine tiefgründige und philosophisch in sich gehende Konversation über das Leben. Wir redeten sieben Stunden miteinander. Ab dem Tag telefonierten wir regelmäßig nach der Schule. Meisten war ich diejenige, die anrief. Ich sprach mit ihm über meine Familie, meine Gedanken und sogar über meine Tagebucheinträge. Er quetschte mich förmlich aus. Er dachte, dass er genau wusste, wie er meine tiefsten Geheimnisse an die Oberfläche bringen konnte. Manchmal, wenn ich mir unsicher war, ob ich es ihm wirklich erzählen konnte, ermunterte er mich immer wieder. Na los rede schon, deine Geheimnisse sind bei mir sicher. Was soll ich auch damit anfangen.

Er dachte, er hätte mich so in der Hand. Manchmal sagte er scherzhaft lachend: „Mit den Dingen, die du mir so erzählst, könnte ich dich irgendwann erpressen!". Was er aber nicht wusste und auch nie wissen wird, ist, dass ich ihn an der Nase herumführte. Die Dinge, die ich ihm erzählte, sind alle nicht wahr. Ich belog ihn mehr als ein Jahr über mein Leben. Ich weiß immer noch nicht, warum ich das tat. Denn wenn ich ihn wirklich so gemocht hätte, wie ich es mir eingeredet habe, dann hätte ich es gar nicht über mich gebracht, ihm mein Leben vorzugaukeln.

Wahrscheinlich war es eine Art Schutzmechanismus. Ich wollte nicht, dass er viel über mich erfuhr, aber auf der anderen Seite liebte ich es, Menschen etwas über mich zu erzählen. Und um dieses Dilemma zu überwinden, fing ich an, Timur anzulügen. Aber nur Timur. Niemanden anderes. Meinen Freunden und meiner Familie sagte ich meistens die Wahrheit, aber nur, weil sie mich nicht mit massenweisen Fragen überhäuften. Timur zwang mich ja gerade dazu, ihm alles zu sagen, was gerade in mir vorging. Und ich konnte einfach nicht „nein" sagen. Stattdessen log ich ihn an.

Ich bin froh, dass er niemals davon erfahren wird. Ich habe ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen und das ist auch gut so.

Ich erzählte ihm auch Geheimnisse. Zwar waren die meisten davon reine Unwahrheit und reinster Humbug, aber eines konnte ich ihm nicht enthalten. Es war meine größte Schwachstelle.                                                                                                                            In einer kalten Novembernacht knackten wir die Neun-Stunden-Marke unserer Telefonate. Bis zu dem Zeitpunkt war Inhalt unserer Gespräche unsere Schule, das neue Spiel „Among Us", auf dem der gesamte Erdball auf einmal abfuhr und unsere gemeinsamen Freunde.    Doch plötzlich, nachdem er mich eine halbe Stunde über meine Meinung zu meiner Freundin und Klassenbesten Lena ausfragte, sagte Timur einfach so aus dem Nichts: „Hast du Geheimnisse?". Ich war verdutzt: „Natürlich habe ich Geheimnisse, wer hat die denn nicht?". Er bohrte nach „Wie viele hast du denn?" Ich verschloss mich: „Musst du das wissen, das geht dich eigentlich nichts an. Denn warum tragen sie sonst ihren Namen?" Die Leitung knackte. „Du hast anscheinend meine Frage nicht verstanden. Ich meinte wie viele Geheimnisse besitzt du? Eins? Zwei? Zehn? Hundert? Kleine Geheimnisse? Große Geheimnisse? Oder etwa doch nur Nichtigkeiten, die für dich so bedenklich sind, dass sie für dich wie eine Belastung erscheinen?"

Timur klang ernst. So hatte ich ihn bis jetzt noch nicht erlebt.

Verwirrt antwortete ich: „Nein, so würde ich das nicht sehen. Es kann sein, dass ich wirklich Unmengen von mikroskopisch kleinen und so geringfügigen Geheimnissen habe, die nicht einmal nennenswert sind. Aber ich habe auch drei sehr große, die ich für mein Leben nicht erzählen werde." „Alles nur Geschwafel. Ich weiß, wie ich alles aus dir herauslocken kann, ob du es willst, oder nicht. Auch deine tiefsten und rätselhaftesten Verborgenheiten. Denn die Wahrheit kommt immer ans Licht, meine Liebe." (Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass er mich ständig „meine Liebe" nannte? Ich fand es damals so unheimlich gut und das erste Mal, als er es zu mir sagte, schmolz ich förmlich so dahin).

Ich weiß, es sollte scherzhaft klingen, doch ich hörte eine gewisse Geringschätzigkeit aus seiner Stimme heraus. Er unterschätzte mich, das spürte ich. Wenn er doch nur geahnt hätte, dass alles, was er aus mir herausbekam, reine Lügen waren. Er konnte mir nichts entlocken, und schon gar nicht die Wahrheit. Aber ich ließ mich auf das Spiel ein. „Denkst du das wirklich? Aber ja, bei deinem Überredungstalent würde es mich nicht wundern. Aber ich weiß, dass sie bei dir sicher wären."

Für mich war es ein interessantes Experiment. Ich erzählte ihm Dinge, die mich in seiner Gegenwart in eine ganz neue Person verwandelten. Sein Glaube an meine Erzählungen faszinierte mich. Und seine Treueschwüre, dass er mein größtes Geheimnis niemals und niemandem weitergeben würde, rührten mich. Also erzählte ich es ihm. Denn ich wusste, bei ihm war es sicher.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 06, 2023 ⏰

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