2. Timur

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Als ich im August vor zwei Jahren in die Oberstufe kam, kannte ich kaum Menschen in meiner neuen Klasse. Nur meine beste Freundin Lara war in meiner neuen Kasse. Ansonsten waren dort Schüler, die ich eigentlich mied. Es waren die populären Menschen, die hunderte Follower auf Instagram hatten, niemandem mit freundlichem Gesicht begegneten, aber trotzdem Unmengen von Freunden hatten. Ich glaube, die Voraussetzung dafür ist, gut auszusehen, egoistisch zu sein und doch unnahbar zu erscheinen. Und darin waren sie Meister.

Auf jeden Fall war ich am Anfang sehr allein. Denn mit Lara belegte ich nur einen Kurs zusammen und meine anderen Freunde waren zusammen einer anderen Klasse zugeteilt worden. Das einzige Positive an der Situation war der Italienisch-Unterricht. Eigentlich konnte ich kein Italienisch. Meine Aussprache ließ zu wünschen übrig und man hörte seit der siebten Klasse den deutschen Akzent heraus. Ich wählte dieses Fach nur wieder, weil ich immer Bestnoten bekam. Ich glaube, das lag nur an den Grammatiktests. Denn dabei musste wir nicht reden, sondern nur schreiben.

Wir waren nur dreizehn Schüler in dem Kurs. Es lag wohl daran, dass es ein Leistungskurs war, den nicht viele Menschen freiwillig wählten. Ich teilte mir mit meiner Kindheitsfreundin Hannah eine Bank. Ich kannte Hannah seit dem Kindergarten. Schon in der ersten Klasse saßen wir in jedem Fach nebeneinander und das hat sich bis heute nicht verändert. In den Kursen, die wir zusammen belegten, saßen wir zusammen. So auch in Italienisch.

Eine Bank neben uns war unsere Freundin, Sophie, die Beste der ganzen Schule. Sie ist lieb und nett, kann aber sehr engstirnig sein. Meine Hoffnung war, dass sie in ihren Sprachferien im Sommer nach dem Abitur einen gutaussehenden Spanier kennenlernt, mit ihm für immer in Spanien bleibt und dort Deutsch unterrichtet. Doch meine Wünsche blieben unerfüllt. Kein Spanier und keine Strände am Atlantischen Ozean. Aktuell ist sie an einer 0815 Hochschule in Mitteldeutschland eingeschrieben und studiert dort das Beamtenwesen. Ihr Grund dafür ist, dass sie für ihre Rente vorsorgen müsse. Und das schon mit achtzehn Jahren! Ich war verzweifelt. Was für eine Verschwendung von Intellekt.

Denn hochintelligent und klug ist sie auf jeden Fall. Immer wenn wir sie wegen einer sehr guten Note beglückwünschten, sah sie uns an, als ob wir sie beleidigt hätten. Sie kann einfach keine Komplimente annehmen, das war schon immer so. Ich glaube, dass sie ihre eigenen Erfolge nicht anerkennen kann. Ich habe das mal gegoogelt und bin auf folgenden Begriff gestoßen: Das Hochstapler-Syndrom. Es ist ein Phänomen, bei dem „Betroffene von massiven Selbstzweifeln hinsichtlich eigener Fähigkeiten, Leistungen und Erfolge geplagt werden und unfähig sind, ihre persönlichen Erfolge anzuerkennen".

Der Rest des Spanisch-Kurses waren nur Schüler, die ich noch nie gesehen habe. Vermutlich, weil unsere alten Klassen immer stets voneinander abgegrenzt auf dem Schulhof standen. Denn keine Klasse wollte mit den anderen in Kontakt kommen, außer es war notwendig und ließ sich nicht unbedingt vermeiden. Von dieser Regelung waren die coolen Schüler ausgenommen. Sie bildeten selbst eine Gruppe, gemischt mit den schönen und gutaussehenden Jugendlichen aus unserer Stufe. Sie standen oft rauchend vor der Schule und sprachen über Partys. Ich wollte auch dazu gehören. Obwohl ich es wohl niemals zugegeben hätte. Denn noch nie in meinem Leben war ich Teil einer Freundesgruppe. Klar hatte ich Freunde, doch diese waren selbst in den unterschiedlichsten Cliquen. Und obwohl sie gerne in den Pausen mit mir sprachen, wurde ich selten dazu eingeladen, zusammen mit ihnen zu einer Party zu gehen. Deshalb lief ich mit Hannah meist in den Pausen allein über das Schulgelände.

Aber auch die absoluten Außenseiter blieben unter sich. Es waren nur drei. Es waren die unbeliebtesten von uns und sie sahen auch dementsprechend so aus. Einer von ihnen hieß Timur. Er saß in Spanisch mit seinem bestem Freund Kevin eine Bank vor uns. Sie bildeten ein komisches Duo. Timur hatte eine wilde ungekämmte blonde Lockenmähne und ein relativ rundes Gesicht. Kevins Haare waren kurz gestutzt und er hatte einen unförmigen Kopf, der nicht zu seinem Körper passte. Timur war groß und Kevin klein. Timur war hochintelligent und Kevin versuchte mit krampfhaftem Auswendiglernen nicht die Klasse wiederholen zu müssen. Timur war laut und extrovertiert und redete schnell, während Kevin aus Schüchternheit kaum seinen Mund aufmachen konnte. Wenn Timur sich bewegte, stampfte er aggressiv und mit vorne übergebeugtem Körper durch die Flure. Kevin traute sich kaum aufzustehen. Einmal, als wir in Deutsch einen Vortrag über Faust halten sollten, war Kevin an der Reihe. Als er vorn an der Tafel stand und alle Augen auf ihm gerichtet waren, hatte ich ihn noch nie so verunsichert gesehen. Es herrschte absolute Stille. Man hätte eine Stecknadel hören können. Kevin sagte nichts. Nach einigen Sekunden stotterte er mit leiser Stimme nur abgehackte Wörter und fing dann an zu weinen. Unsere Deutschlehrerin musste ihn zurück auf seinen Platz holen. Er kam eine Woche nicht zur Schule.

Timur war dagegen ganz anders. Er war in fast allen Fächern der beste. Wir hatten vier Fächer zusammen. Sport, Spanisch, Kunst und Biologie. In Biologie war er unschlagbar. Das ist unbestreitbar. In Kunst war ich ihm immer ein kleines Stück voraus. Kunst lag mir einfach schon immer, obwohl ich mich nicht als Künstlerin bezeichnen kann. Ich konnte nur durchschnittlich gut zeichnen und im Basteln war ich grottenschlecht. Aber es zählte nur der Gesamteindruck eines Projekts und darin war ich super. Anders als Timur. Er war sogar der Schlechteste in Kunst. Ich zog ihn immer damit auf, dass ich ihn in diesem Fach immer um Längen schlug.

Das erste Mal, als ich wirklich Notiz von ihm nahm, war auf dem Sportplatz. Im ersten Halbjahr der elften Klasse stand Leichtathletik auf dem Stundenplan. Wir mussten auf dem Sportplatz einige Runden drehen. Ich war mit die schnellste von den Mädchen und löste mich aus der Gruppe meiner Freundinnen. Ich holte mit den Jungen auf und überholte die meisten von ihnen.

Als ich die vierte Runde beendete, sprach mich auf einmal eine Stimme rechts neben mir an. „Hey wie geht's?" Schon wieder diese jämmerliche Frage. Noch nie konnte ich diese Floskel nicht leiden. Ungehalten wendete ich den Kopf. Es war Timur. Sein zu langes Sport-T-Shirt ließ ihn noch schlaksiger wirken. Er schaute mich ehrlich interessiert an: „Na was ist?"„Ganz gut und dir? Laufen ist schon echt anstrengend" sagte ich und lachte. Er schaute mich ernst mit seinen hellblauen Augen an: „Warum sagst du sowas? Ausgerechnet du? Du bist das erste Mädchen und die Zweite bei dem Lauf insgesamt. Ich bin gerade mal bei meiner dritten Runde und du bist schon mitten in Runde fünf. Das ist schon 'was Besonderes. Ich fühlte mich geschmeichelt: „Dafür bist du der Beste in allen Fächern. Guck dich doch mal in Bio an, das was du da immer so sagst, könnte ich niemals!"

„Aber dafür hast du keine Ahnung wie ich in Kunst bin. Ich weiß nicht 'mal, warum ich dieses Fach überhaupt gewählt habe.

„Haha ich auch nicht. In Musik bekam ich beim Singen immer eine drei minus. Bestimmt keine vier, weil ich wenigstens den Text konnte"

„Ja, so ging es mir auch! Ach und was hältst du eigentlich von unserer Spanischlehrerin? Frau Buche?"

„Ich finde sie ganz nett, aber sie ganz sich überhaupt nicht durchsetzen. Ihr Unterricht ist auch ein bisschen so wie in der sechsten Klasse. Vielleicht hat sie uns auch einfach verwechselt!"

„Ja das kann sein, deshalb spricht sie auch immer in einer hohen Stimme mit uns. Weil sie denkt, wir wären zwölf Jahre alt."

Ich weiß nicht mehr genau, worüber wir noch sprachen, aber diesen seichten Smalltalk führten wir bis zum Ende des Unterrichts weiter. Auf dem Nachhauseweg fühlte ich mich seltsam froh. Es war so, als ob mir jemand eine große Last vom Herzen nahm. Ich hatte nun endlich eine gleichaltrige und dazu männliche Person gefunden, mit der ich reden konnte. Ich war nun nicht mehr so allein wie ich am Anfang fühlte.

In den nächsten Tagen und Wochen sprach er mich immer wieder an. Mal im Unterricht, mal kam er in der Pause zu mir und manchmal begrüßten wir uns auf den Gängen. Das war der Beginn unserer Freundschaft. Und ich hoffte, sie würde noch lange anhalten.

Ich möchte sterben. Oder? Where stories live. Discover now