Prolog

13 1 1
                                    


Ich schreibe diese Geschichte, um daran zu erinnern, dass ich gelebt habe. Ich schreibe hier das letzte Jahr meines Lebens auf, das mich dazu veranlasst hat, mich umbringen zu wollen.

Es ist September. Mein Name ist Charlotte, ich bin seit  einem Monat 19 Jahre alt, lebe in einem ziemlich kleinen Kaff mit ein paar Tausend Einwohnern und bald werde ich Opfer eines Zugunglücks sein. Vermutlich am 27. Oktober diesen Jahres.       

Ich stelle mir vor, dass ich am 27. Oktober um 4:21 Uhr am Morgen in den Nachtbus steigen werde. Ich werde mit alkoholgetrübten Blick aus dem Fenster sehen, die Nachtlichter blenden meine Augen. Ich werde sie für einen Moment schließen. Mir wird einfallen, dass es die letzte Busfahrt meines Lebens sein wird. Das letzte Mal sehe ich die heruntergekommenen und dunklen Häuser, die die Hauptstraße säumen.
Ich werde aus dem Bus taumeln, den vertrauten Weg nach Hause stolpern, einmal die bergige Straße nach oben und dann links abbiegen. Ich werde an den Nachbarhäusern vorbeigehen, vorbei an den unbeleuchteten Fenstern und den Vorgärten, die seit meiner Kindheit unverändert vor mir liegen.
... 19, 17, 15, 13, 11. Ich werde an der Hausnummer 11 stehen bleiben und auf das dreistöckige Haus sehen. Es wirft seinen Schatten bis auf die andere Straßenseite. Es scheint mich zu verhöhnen, wenn es so auf mich herabschaut.

Mit einem Blick in den Himmel, bemerke ich, dass dieser sich zuzieht. Die Wolkendecke wird dichter. Bald fängt es an zu regnen

Rechts oben, unter dem Dachgeschoss, befinden sich die Fenster meines Zimmers. Das Licht brennt noch. Ich habe offenbar vergessen, es gestern Abend auszuschalten. Nicht einmal das bekomme ich mehr auf die Reihe. Doch die Tatsache kann mir nun nichts mehr ausmachen. Ich präge mir noch einmal genau die Form meiner Fenster ein, mein Haus, meinen Vorgarten. Ich versuche das Bild in mein Gedächtnis zu brennen.
Das Licht im Treppenhaus geht an. Ich höre hastige Schritte. Die Haustür geht auf und heraus tritt unser Mieter, ein Bäcker, auf dem Weg zur Arbeit. Er muss sich beeilen, er ist spät dran. Er wird mich verwundert anschauen und dann über den Fakt nachdenken, dass ein Mädchen wie ich, früh morgens vor dem Haus herumlungert. Danach wird ihm einfallen, dass es Samstag ist und ich ein Teenager bin. Er zuckt die Schultern, grüßt mich freundlich und eilt zur Bushaltestelle. Ich schaue ihm nach. Er ist der letzte Mensch, der mich lebend sehen wird.

Ich sehe noch einmal zu meinem Haus. Es steht unverändert da. Ich straffe die Schultern. Ich bin bereit. Ich wende meinen Blick ab, und gehe die Straße weiter hinunter. Am Ende der Straße befindet sich unsere einzige S-Bahnhaltestelle. So abgelegen ist unser Dorf. Dort sind die Bahngleise.
Ich werde schneller gehen. Ich will nicht darüber nachdenken. Ich will meine Entscheidung nicht in Frage stellen und wankelmütig werden. Die Angst soll nicht von mir Besitz ergreifen. Ich werde rennen. Und noch mehr rennen. Die Häuser werden an mir vorbeiziehen. Der Wind wird mir ins Gesicht peitschen und die Baumkronen an der Seite werden toben. Ich werde atemlos vor den hell erleuchteten, offenen Schranken stehen bleiben. Dahinter herrscht pure Dunkelheit. Ich sehe ein letztes Mal zurück. Der Wind brennt mir unangenehm in den Augen. Am Anfang der Straße steht meine Kindheit. Am Ende stehe einsam ich. Ich könnte jederzeit zurückkehren. Doch ist es dafür nicht schon zu spät?

Ich sehe die Schranken vor mir. Sie gehen langsam herunter. In der Ferne höre ich ein schwaches Dröhnen. Ein Zug kommt.
Das Dröhnen wird lauter. Er kommt näher. Ich kann ihn genau sehen. Es wird immer lauter. Bald ist er da.
Jetzt oder nie.

Ich möchte sterben. Oder? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt