3. Lügen

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Ich war nun einige Wochen Teil der 11. Klasse. Die Oktoberferien waren fast vorbei.

In dieser Zeit dachte ich oft an ihn und ich freute mich, ihn endlich in der Schule wiederzusehen. Ich fragte mich am Abend vor Schulbeginn, wie ich ihm begegnen sollte. Wir hatten im ersten Block Biologie und saßen seit kurzem nebeneinander. Sollte ich ihn im Raum mit einem einfachen „Hallo, wie geht's dir?" begrüßen, oder war das zu einfallslos? Oder wie wäre es mit einem „Hey, wie waren deine Ferien?"? Nein, definitiv zu gezwungen, ich brauchte eine coole, gelassene Frage. Und sollte ich mich wirklich neben Timur setzen? Es könnte ja sein, dass er es sich in den Ferien anders überlegt hatte und nun allein sitzen wollte. Wahrscheinlich bin ich ihm in den letzten Wochen nur auf die Nerven gegangen und er war zu höflich, um mir zu sagen, dass ich mir eine andere Bank suchen sollte. Bestimmt konnte er mich überhaupt nicht mehr leiden! Und ich Nervensäge habe es überhaupt nicht bemerkt! Vielleicht sollte ich auch einfach die Stunde ausfallen lassen. Was wäre schon dabei. Dann stünde ich morgen nicht vor der Entscheidung, Timur „Hallo" zu sagen, mich zu ihm zu setzen oder mir eine andere Bank zu suchen. Aber andererseits konnte ich doch nicht die erste Stunde nach den Ferien schwänzen, das wäre doch inakzeptabel.

Mit diesen Gedanken im Kopf wälzte ich mich noch stundenlang im Bett herum. Ich glaube, ich bin erst spät nach Mitternacht eingeschlafen.

Am nächsten Morgen wachte ich wie gerädert auf. Es war sechs Uhr früh und ich war daran gewöhnt, erst nach Zehn aufzustehen. Ich spielte mit dem Gedanken, wieder ins Bett zu gehen und für den Tag auf die Schule zu pfeifen. Ich drehte mich gerade auf die andere Seite, als mir einfiel, dass ich heute Timur wiedersah.

Stöhnend zwang ich mich aus dem Bett zu steigen und der Tatsache ins Auge zu blicken, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Durch die Ferien hatte ich völlig vergessen, wie ich mit ihm umgehen sollte. Das Gute war jedoch, dass mein Bus so früh kam, dass ich einer der ersten im Raum sein und mich innerlich darauf vorbereiten konnte, mit Timur zu sprechen. Ohne mich vor allen lächerlich zu machen, die sich ohnehin schon darüber lustig machten, dass ich mit ihm befreundet war.

Innerlich beflügelt ging ich zur Bushaltestelle. Es war ein regnerischer Tag, das weiß ich noch. An der Bushaltestelle angekommen, registrierte ich, dass mehr Menschen als sonst dort standen. Sie blickten alle mit aufgebrachten Gesichtsausdrücken auf die Anzeigetafel. Mit blinkenden Worten teilte der Bildschirm uns mit, dass die nächsten Busse aufgrund eines Unfalls ausfallen würden. Das wars. Mein Bus fiel aus. Ich würde zu spät zur Schule kommen. Ich würde nicht allein mit Timur reden können. Ich würde wie ein Nervenbündel vor ihm stehen und jeder würde mich auslachen. Unsere Freundschaft würde zerbrechen. Ich würde nie wieder glücklich werden.

Mit diesen erhellenden Gedanken machte ich mich auf dem Weg zur Schule.

Mein Kopf war wie leergefegt, als ich den Biologie-Raum betrat. Natürlich waren fast alle Schüler schon da. Timur saß allein an seiner Bank. Das war ein gutes Zeichen. Vermutlich wollte er noch, dass ich neben ihm saß. Ich nahm meinen Mut zusammen und ging zielstrebig auf ihn zu. Ich sah ihm durchdringend in seine Augen. Sein Blick war undurchschaubar. Würde er mich neben sich sitzen lassen? Würde er noch mit mir reden? War unsere neue und zerbrechliche Freundschaft durch die schier unendlichen Ferien gebrochen?

Timur schob den Stuhl für mich zurück und sagte: "Setzen Sie sich doch". Das Eis war gebrochen. Es war alles noch beim Alten. Ich seufzte erleichtert.

Wir redeten und flüsterten die ganze Stunde in unserer Ecke. Manchmal unterbrach ein lauter Lacher von Timur die Stille. Unsere Lehrerin Frau Ball war so ungehalten über unsere Ignoranz gegenüber dem Unterricht, dass sie uns scharf zurechtwies. Sie wusste ganz genau, dass ich eine Niete in Biologie war, sodass sie mich einmal spitz fragte: „Wenn du so gut aufgepasst hast, wie du es mir gerade beteuerst, dann erläutere mir doch einmal die Prozesse der Translation der Proteinbiosynthese." Natürlich hatte ich keine Ahnung und Timur schob mir bei diesen Fragen oft seine Aufzeichnungen hinüber, sodass ich es halbwegs erklären konnte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 06, 2023 ⏰

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