Engel

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Sonntag

Breda beobachtete die Menschen, die in die Kirche strömten.
Alte Menschen, junge, kranke, sie alle gingen in die Kirche. So wie es sich für einen anständigen Bürger gehörte.
Er selber wartete.
Er wollte nicht wie ein Schaf in der Herde mitlaufen. Nicht, weil er etwas gegen die Leute hatte, sondern eher aus bequemlichen Gründen.
Er wollte ganz zum Schluss hinein gehen.
Breda pfiff vergnügt vor sich hin. Dann sah er Sylva, die ihre kleine Tochter an der Hand führte.
Als sie den Grafensohn sah, verzog sie missbilligend das Gesicht. Sie beugte sich zu Natascha runter und flüsterte ihr etwas zu. Das Mädchen nickte und ging alleine weiter, während Sylva auf Breda zu ging.
„Guten Tag, Sylva."
Sylvas Gesicht war todernst.
„Guten Tag, Breda."
Sie stellte sich neben ihn und musterte die letzten vereinzelten Menschen, die zur Kirche eilten.
„Wollen wir?" fragte Breda und hielt ihr seinen Arm hin. Sylva reagierte nicht.
Nach ein paar Sekunden des Schweigens wandte sie sich ihm zu.
„Darf ich Euch eine Frage stellen?"
Er nickte. „Fragt!"
Sie blickte ihm direkt in die Augen.
„Empfindet Ihr etwas für meine Nichte?"
Breda war nicht besonders erstaunt über diese Direktheit. Sylva sprach immer das aus, was ihr auf der Seele lastete. Und das war auch etwas, was er an ihr sehr schätzte.
Seine Antwort sollte wohlüberlegt sein.
„Sie ist wirklich reizend. Direkt, offen, ehrlich. Ich schätze diese Eigenschaften, dass wisst Ihr. Ja, Sylva, ich mag Nadja sehr gerne. Und ich hoffe doch, dass dies auf Gegenseitigkeit beruht."
„Wisst Ihr", nachdenklich beobachtete Sylva zwei Vögel, die um den Kirchturm herum flogen, „ich denke, sie mag Euch auch. Mehr als sie zugeben mag."
Schweigen
Breda überlegte, wie er am besten sagen sollte, was ihn seit Freitag beschäftigt hatte. Schließlich beschloss er, dass Sylva Direktheit, Ehrlichkeit verdient hatte. Sie redete nie lange um den heißen Brei herum, also würde er das auch nicht tun.
„Warum habt Ihr Nadja nicht gesagt, dass ich da war?"
Sie sah ihn mit ihren braunen Augen an, dann lächelte sie.
„Ich wusste, dass ich Euch nicht lange etwas vormachen konnte. Aber seht Ihr, Nadja ist die Tochter meiner ältesten Schwester Maria."
Ihr Blick wurde traurig.
„Als Maria letzten Winter starb, kam Nadja zu mir. Ich bin ihre nächste Verwandte und ich liebe sie wie mein eigenes Kind. Sie ist ein anständiges Mädchen, Breda. Und ich wünsche mir nur das Beste für sie."
Breda begann zu ahnen worauf das Gespräch hinauslief.
„ Sie würde sich in Eurer Welt nicht wohlfühlen. Sie würde nicht akzeptiert werden und auch Euch würde dies schaden. Sie gehört hierher. Ins Dorf. In das normale sterbliche Leben. Ich bin es Maria ihr schuldig. Sie würde nicht wollen, dass es passiert!"
„Glaubt mir, Sylva. Auch ich wünsche mir, dass Nadja ihr Glück findet. Und ich verstehe Eure Bedenken."
Sylva lächelte traurig.
„Dann bitte ich Euch, Breda von Krolock, sie nicht mehr wieder zusehen."
Sie wandte sich ihm zu und sah ihn flehend an.
„Geht nicht in die Kirche! Kommt nicht wieder hierher! Ich bitte Euch!"
Vereinzelt fielen schon die Regentropfen.
„Ich würde es Euch versprechen, Sylva. Ich würde es Euch gerne versprechen, aber ich kann nicht."
Eine einzelne Träne lief über Sylvas Wange. Es hätte auch ein Regentropfen sein können.
Sie straffte die Schultern und nickte.
„Dann soll es wohl so sein."
Die beiden konnten hören, wie drinnen der Priester seine Schäfchen begrüßte.
„Wir sollten reingehen."
Breda hielt ihr seinen Arm hin und sie ergriff ihn wortlos.
Zusammen gingen sie über den Platz zur Kirche. Kurz bevor sie durch die Tür traten hielt Breda inne.
„Aber ich kann etwas anderes versprechen. Ich verspreche Euch, alles zu tun, was in meiner Macht steht, damit es Nadja gut geht. Ich verspreche Euch, sie mit meinem Leben zu beschützen. Ihr niemals Schaden zuzufügen."
Es versprach es nicht nur Sylva, sondern er richtete diese Worte auch an sich.
Denn es stimmte. Er würde sie beschützen. Er würde sein Leben für sie geben.
Das hatte er in diesem Augenblick erkannt!
Sylva blinzelte einmal. Zweimal. Dann stahl sich ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht.
„Ich vertraue auf Euer Wort, Breda. Ihr seid ein Ehrenmann."
Breda verneigte sich kurz vor ihr, dann betraten sie zusammen die Kirche.
Der Priester hatte seine Begrüßung beendet und das erste Lied wurde angestimmt.
Seichte Klänge erklangen in der kleinen Dorfkirche.
Eine klare Stimme erhob sich über alle anderen.
Hell und klar.
Es schien, als sei ein Engel Gottes vom Himmel herab gekommen, nur um hier sein himmlisches Lied zu singen. Der engelhafte Klang berührte die Menschen in der Kirche und allen voran den jungen Adligen.
Breda hatte noch nie so eine Stimme gehört.
Dieser liebreizende Klang schien gegen jedes Unheil bestehen zu können. In diesem Moment war sich Breda sicher, dass kein Mensch auf dieser Welt diesem Klang widerstehen könnte.
Es war wie ein Traum.
Er sah hinauf zu Empore.
Dort stand Nadja. Sie hatte ein weißes, einfaches Kleid an, das an ihr aussah wie ein festliches Ballkleid. Ihre roten Locken kringelten sich über ihren Schultern und würden nur von einem einfachen - ebenfalls weißen - Band gebändigt. Eine Strähne hatte sich gelöst und fiel ihr ins Gesicht.
Ihr Gesicht...
Sie schien so glücklich in diesem Moment. Breda konnte erkennen, wie sie ganz in dem Lied gefangen war, völlig darin aufging. Ihr ganzes liebes zartes Wesen floss in die Musik mit ein und machte sie zu etwas ganz besonderem.
Ihre Augen waren geschlossen. Das Licht, welches durch ein Fenster in die Kirche fiel, tauchte sie in ein zauberhaftes Licht.
Breda wusste, er hatte noch nie so etwas Wundervolles gesehen.
Ihren Gesang zu hören, war schon ein unbeschreibliches Gefühl. Aber sie beim Singen zu beobachten...
Zu sehen, wie frei und unbeschwert und voller Hingabe sie war...
Ein Gefühl der Glückseligkeit ergriff von ihm Besitz, das ihn während des restlichen Gottesdienstes nicht mehr loslassen wollte.
Mit einem Lächeln auf den Lippen ging er schließlich aus der Kirche. Er stellte sich an den gleichen Platz, an dem er vorher mit Sylva geredet hatte. So würde er sehen, wenn sie aus der Kirche kam und sie würde ihn auch sehen.
Mehrere Minuten vergingen.
Die Menschen gingen wieder nach Hause, während Breda auf den Engel wartete.
Schließlich kam sie.
Sie hatte wieder ihr Alltagskleid angezogen. Ihre Wangen waren gerötet, während sie aufgeregt mit einem anderen Mädchen redete.
Dann erblickte sie Breda.
Nadja stockte, lächelte, sagte etwas zu dem anderen Mädchen, das ihm einen kurzen scheuen Blick zuwarf, um letztendlich zu ihm zu gehen.
„Guten Tag, Breda. Ihr seid gekommen!"
Ihre grünen Augen strahlten heller als die Sonne, die inzwischen wieder zum Vorschein gekommen war.
„Ich hatte doch gesagt, dass ich kommen würde. Habt Ihr daran gezweifelt? Ihr habt wundervoll gesungen, Nadja."
Sie errötete.
„Danke. Und ehrlich gesagt, ich hatte meine Zweifel. Ich habe sie immer noch."
Sie beobachtete eine kleine Raupe, die auf dem Zaunpfahl entlang kroch.
„Kommt, lasst uns ein bisschen gehen." Bat Breda sie. „Dann könnt Ihr mir auch von Euren Zweifel berichtet, damit ich sie Euch nehmen kann."
Nadja stockte.
„Nein, ich meine, das geht doch nicht..."
Breda lachte.
„Warum? Ist es unschicklich? Ich versichere Euch, ich werde schweigen wie ein Grab!"
„Hab ich eine andere Wahl?" fragte Nadja scherzhaft.
Breda sah sie ernst an. Das war ein Thema, worüber er nicht gerne scherzte.
„Natürlich habt Ihr die. Ich würde Euch niemals die Wahlmöglichkeit nehmen. Dafür hab ich zu viel Respekt vor Euch und vor dem Leben an sich."
Das Lächeln wich von Nadjas Gesicht.
„Danke."
Sie gingen schweigend weiter.
Die Vögel sangen und die Wolken von eben hatten sich verzogen. Nur an den Pützen konnte man erkennen, dass sie überhaupt da gewesen waren. Die Bäume waren alle in ein zartes frisches Grün gekleidet. Vereinzelt wuchsen Wildblumen am Wegrand.
Nadja bewunderte all die kleinen Naturwunder, die ihnen begegneten.
Breda bewunderte ihre Lebensfreude. Ihr unbeschwertes Lachen, mit dem sich einen kleinen Käfer beobachtete, der über den Weg krabbelte.
Und verspürte den großen Wunsch, diese junge Frau für den Rest seines Lebens bewundern zu können. Er hing versunken seinen Gedanken nach und bemerkte nicht, wie Nadja sich aufrichtete und ihn lächelnd ansah.
Ein amüsiertes Funkeln in ihren Augen erregte seine Aufmerksamkeit.
„Woran denkt Ihr, Nadja?"
Sie überlegte kurz.
„Daran, was für ein wunderschöner Tag heute ist. Daran, dass ich mich sehr freue, dass Ihr gekommen seid..."
Breda grinste.
In einem Augenblick war sie das schüchterne kleine Mädchen und im nächsten eine junge Frau, die die Schüchternheit für einen Augenblick hinter sich lassen konnte und sagte, was sie dachte.
Wahrscheinlich wusste sie selber nicht genau was sie wollte.
Und dann wär da noch seine Abstammung. Einem Mädchen, das aus einem einfachen Haushalt kam, konnte es nicht leicht fallen, mit jemandem wie ihm unbeschwert seine Zeit zu verbringen.
Gedankenverloren sah er in die Landschaft.
„Ich wünschte, Ihr könntet vergessen, dass wir aus unterschiedlichen Verhältnissen stammen."
Sie wurde ernst.
„Ich wünschte, es gäbe diese unterschiedlichen Verhältnisse nicht. Dann..."
Sie verstummte als sie seinen Gesichtsausdruck sah.
Breda wusste nicht, was genau sie sah, doch er konnte sehen, wie sich ihr Atem beschleunigte.
Er trat einen Schritt auf sie zu und schloss sie in seine Arme. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust und schloss die Augen.
Breda konnte ihr Herz schlagen fühlen und genoss das Gefühl, sie in seinen Armen halten zu dürfen.
Mit einem Mal befreite sie sich aus der Umarmung und sah ihn mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck an.
„Wir dürfen nicht..." es war nicht mehr als ein Flüstern, dass über ihre Lippen kam.
Breda sah sie einfach nur an und schwieg. Was sollte er dazu sagen? Er wollte sie zu nichts zwingen, was sie nicht wollte. Hatte er doch geschworen, ihr Leben zu beschützen und sie vor Leid zu bewahren. Wahrscheinlich wäre es wirklich besser, wenn sie sich nicht mehr sehen würden. Sie gehörte nicht in seine Welt, wie Sylva gesagt hatte.
Doch das würde er nicht ertragen.
Sie sahen sich noch einen Augenblick in die Augen, dann wandte sich Nadja hastig um und ging den Weg zurück.
„Nadja, wartet!" rief Breda ihr hinterher.
„Ich würde Euch gerne wiedersehen!"
„Es geht nicht!" rief Nadja über die Schulter zurück und Breda konnte sehen, dass sie weinte.
Er lief hinter ihr her.
„Bitte! Nadja!"
Sie blieb stehen.
„Ich möchte Euch wiedersehen." Bat Breda.
Mit großen Augen sah Nadja ihn an.
Sie machte einen Knicks und flüsterte kurz.
„Morgen Mittag an der Lichtung."
Dann ging sie und Breda blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterher zu schauen.
Er sah, wie der Engel hinter einer Kurve verschwand.
Breda wartete noch einen Augenblick, dann machte er sich auf den Weg zurück zum Schloss.
Sein Pferd stand zwar noch im Dorf, aber er hatte keine Zweifel, dass man sich darum kümmern würde. Und ein Fußmarsch würde ihm helfen, seine Gedanken ein wenig zu beruhigen.
Und seine Vorfreude auf morgen zu bändigen.
Morgen würde er seinen Engel wieder sehen.
Den Engel, den der Himmel geschickt hatte und der es geschafft hatte, sich sofort in sein Herz zu schleichen.

Immer Wenn Ich Nach Dem Leben Griff...Donde viven las historias. Descúbrelo ahora