„Nein. Daran denkt man jetzt auch nicht sofort, wenn man ihren Namen hört."

„Eben. Jeder Mensch hat verschiedene Gesichter. Man sollte einfach nie vorschnell oder nach dem ersten Eindruck urteilen." Ich stimmte ihr zu, während ich mich fragte, was sie wohl für erste Eindrücke von mir behalten würde. Wir kamen kurz vor der Dorfkirche raus, gingen an ein paar winzigen Geschäften und dem puppenstubenartigen Café vorbei und überquerten dann die Straße. Eine schmale Holzbrücke mit einem einseitigen Geländer führte über das kleine Flüsschen. Als wir es überquert hatten blieb Anni stehen. „So und das was du jetzt siehst, wenn du schräg zur Kirche rüber schaust, ist dir sicher nicht neu. Das dürfte das bekannteste Fotomotiv im ganzen Landkreis sein, deutschlandweit und auch darüber hinaus weitbekannt. Frag mich nicht warum, aber es gibt Millionen von Postkarten, Kalender, Schneekugeln, Puzzles und... und..und. Und allesamt zeigen sie genau das. St. Sebastian, davor die Ramsauer Arche und den Ertlsteg quer darüber. Im Hintergrund das Wagendrischlhorn und die Reiteralm. Fast immer exakt aus dieser Perspektive. Wir stehen nämlich genau im sogenannten Malerwinkl. Von hieraus ist die Kirche unzählige Male gemalt und fotografiert worden. Mittlerweile gibt's sogar ne Webcam." Sie zeigte auf die Kamera, die in einer Art Vogelhäuschen angebracht war. „Sogar unsere Bushaltestelle wurde verlegt, weil das Schild auf den Bildern gestört hat. Das Motiv wird auch ständig kopiert und geklaut für Dinge, die nicht im Entferntesten was mit Ramsau zu tun haben. Jeder will ein bisschen was ab haben von diesem idealisierten Heile-Welt-Motiv."

„Und die Menschen hier sind genervt davon bzw. das fühlt sich falsch für euch an?"

„Teilweise. Für uns ist es halt in erster Linie unsere Kirche und kein Postkartenmotiv. Wir werden hier getauft, feiern Erstkommunion, viele auch ihre Hochzeit und unsere Angehörigen werden hier beerdigt. Wir sind sehr eng mit ihr verbunden, so wie das oft in kleinen Dörfern und Ortschaften üblich ist. Ab und an fühlt man sich dann schon gestört oder genervt davon, dass sie uns nie alleine gehört und als Touristenattraktion missbraucht wird. Andererseits lebt der Ort vom Tourismus und der ganze Trubel bringt natürlich viel Aufmerksamkeit. Meine Familie lebt seit Generationen davon. Es ist also Fluch und Segen zugleich. Aktuell wären die meisten wahrscheinlich froh über Touristen im Ort. Die Gegend hier treffen diese Lockdowns echt hart."

„Verstehe. Dann ist die Ruhe hier eine absolute Ausnahme?"

„Also wenn es nicht gerade um ein Wochenende in den Sommerferien handelt, dann geht's meistens. Es verteilt sich relativ gut. Wir sind ziemlich stolz auf den Titel Bergsteigerdorf. Wir sind als erstes Dorf in Bayern damit ausgezeichnet worden, weil hier auf Naturschutz, Nachhaltigkeit und vor allem auch auf sanften Tourismus gesetzt wird. Keine Riesenhotelbunker und alles muss optisch ins Bild passen von der Bauweise und Größe her."

„Ja, das macht Sinn, denn sonst geht ja genau dieser Charme verloren, wegen dem die Menschen herkommen."

„Ja und ich bin froh, dass man das früh erkannt hat. Es gibt auch andere Beispiele. Sollen wir weiter oder möchtest du ein Foto machen? So als Beweis, dass du hier warst." Sie lächelte mich wieder an und ihr Lächeln war sehr ansteckend und einnehmend. Generell umgab sie eine Aura von Leichtigkeit und Offenheit, die angenehm und unkompliziert war.

„Nö, sonst bin ich bei dir ja sofort als dämlicher Touri abgestempelt. Aber die Kirche würde mich interessieren, also von innen. Ist die immer offen oder abgesperrt? Also nicht jetzt sofort, sondern generell."

„Also ich glaube, dass sie tagsüber meisten offen sein dürfte. Aber ob das aktuell strenger gehandhabt wird, weiß ich nicht. Kann mich informieren oder du probierst es einfach mal aus. Das Wetter soll leider sowieso bald schlechter werden. Magst du Kirchen generell oder hab ich dich neugierig gemacht."

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