036 - Nachtgedanken

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Manchmal staune ich über mich selbst. Namjoon muss heute Nacht ganz ausnahmsweise arbeiten, hat dafür aber morgen frei. Ich sitze allein zu Hause auf meinem Minibalkon, ein Glas Wein in der Hand, und betrachte die Sterne am Himmel über Seoul. Meine Gedanken wandern - hinaus aus dem alltäglichen Trott, hinein in mein eigenes, inneres Universum.

Was habe ich alles erlebt, verdaut, gelernt in den letzten vier Monaten? Was ist da heute Nachmittag mit Jin und mir passiert? Und vorher mit Hobi? Was steckt da in mir? Bei manchen Gesprächen stehe ich staunend neben mir und höre mir zu. Woher kommt das? Ich habe mein halbes Leben lang behütet gelebt und nie etwas "Schlimmes" gesehen, das mich dafür reif gemacht hätte. Ich habe auch nicht Pädagogik oder Soziologie oder Psychologie studiert. Als Erwachsene habe ich die zweite Hälfte meines Lebens mit Normalsein und nur wenig Reflexion verbracht. Ich war eingebettet in einen Freundeskreis, dann in eine Kollegengruppe. Das Leben war nett zu mir und hat mir wenig Herausforderungen gestellt. Meine Zukunft, irgendwelche Ziele, Pläne, Träume oder Nöte, habe ich nie unter die Lupe genommen.

Aber seit ein paar Monaten, seit dem Tod von Harry und dem Schock darüber habe ich für mich und für die Menschen um mich drumrum eine Sensibilität entwickelt, von der ich nie etwas wusste. Ich höre, verstehe, fühle, tröste, rate, motiviere. Ich bin zugewandt, reflektiert, engagiert, zielstrebig wie nie zuvor. Ich schaffe es irgendwie, den Menschen um mich herum Türen zu öffnen und Wege zu ebnen, die sich in psychischen und existenziellen Sackgassen befunden haben.

Bin das 'Ich'? Ist das mein Weg? Das ist seltsam ungreifbar. Unbegreiflich. Menschen zu motivieren, zu trösten, ihnen zu einer Zukunft zu verhelfen - das kann man nicht anfassen, nicht in Zahlen ausdrücken, nicht in prozentualer Produktivitätssteigerung festhalten. Das kann man nicht auf Fotos oder in Protokolle bannen. Das kann man nicht nochmal nachlesen, um sich selbst für die nächste Etappe zu vergewissern und zu stärken. Das kann man nur fühlen und erinnern. Bin ich inzwischen so gestrickt, dass ich dafür genug Durchhaltevermögen habe?

Damals - auf dem Garagendach, bei der Graduationfeier - da hat So-Ra gesagt:"Und jetzt gibst du schon wieder auf!" Ich habe viel geschafft seitdem, auf das ich stolz sein kann. Aber das wichtigste dieses Tages damals, das ist auf der Strecke geblieben: mich selbst kennen zu lernen, meinen Träumen nachzuspüren, dem Leben auf die Spur zu kommen. Und durchzuhalten.

Dieses neue - war das nur verschüttet in mir, oder habe ich das durch die Jungs und die Villa völlig neu gelernt? Geduldig auf den richtigen Moment zu warten. Bei der Begleitung dieser Menschen langen Atem zu beweisen. Kraft aufzubringen, einfach weil es sich richtig anfühlt. Entscheidungen, auch wenn sie schwierig sind, bewusst herbeizuführen. Dem Zweifel Paroli zu bieten. Bin das 'Ich'?

Und warum war ich mir in den letzten Monaten in entscheidenden Momenten wider alle Vernunft absolut sicher, dass das jetzt richtig ist, was ich grade tue? Dass ich die Wohnung in Berlin behalten habe. Dass ich die Jungs nicht aus der Villa rausgeworfen habe. Ich hatte nicht erwartet, dass es so lange dauern würde, bis ich weiß, welchen Zweck die Villa bekommt. Aber auch das war letzten Endes richtig. Das fühlt sich heute an, als hätte ich erst jetzt damit angefangen, das zu tun, was ich mir damals auf dem Garagendach vorgenommen habe. Ich habe wohl wirklich endlich gelernt, meiner Intuition zu vertrauen. Und, nicht zu schnell aufzugeben.

Traurigkeit überfällt mich plötzlich wie ein wildes Tier.
War es das, was Harry aus mir rauslocken wollte? Was er in mir gesehen hat und zum Aufblühen bringen wollte? War das schon immer mein Wesen? Und seine Lebensaufgabe, mich dafür bereit zu machen? Dann habe ich ihn nicht nur in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt. Dann habe ich ihn auch - vom Tag der Graduation an - verraten und ihm das Wichtigste genommen, was er sich gewünscht hat - mich so zu erleben, wie ich heute bin. Wie ich sein sollte. Wie ich erst werden konnte, WEIL er gestorben ist und das Innerste in mir zu oberst gekehrt hat. Wie grausam! Ich würde ALLES dafür geben, diesen Moment der Erkenntnis jetzt gemeinsam mit ihm erleben zu dürfen. Ich habe mich so schuldig gemacht an ihm durch meine Oberflächlichkeit!

STAY GOLDWhere stories live. Discover now