16 Jahre später - 02 - ein ganz gewöhnlicher Tag

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Der Wecker hat wie immer viel zu früh geklingelt. Eigentlich macht die Arbeit ja Spaß. Aber nicht jeden Tag zehn Stunden lang. Heute Morgen hab ich nur schnell geduscht, mir eine Wasserflasche und die Post gegriffen und bin losgerast, um meine S-Bahn noch zu kriegen. Dann hat mich sofort die Arbeit auf meinem Schreibtisch in Anspruch genommen. Ein ganz gewöhnlicher Bürotag nimmt seinen Lauf. Ich sitze mit So-Ra und zwei weiteren Kollegen in einem Raum. Wir haben es tatsächlich beide geschafft, übernommen zu werden und in der selben Abteilung zu landen.
Wir arbeiten uns in Vorgänge ein, telefonieren, schreiben Emails, schließen Fälle ab - schaffen Akten auf unseren Tischen von "Eingang" nach "Ablage". Wie an jedem gewöhnlichen Arbeitstag. Erst jetzt - in meiner Kaffeepause, während die anderen rauchen oder für kleine Prinzessinnen gegangen sind - denke ich wieder an diesen amtlich aussehenden Umschlag in meinem Poststapel und hole ihn aus meiner Handtasche. Der Absender ist mir unbekannt.

Fachanwalt für Familien- und Erbschaftsrecht

Das verwirrt mich. Ich habe doch überhaupt keine Familie! Und also auch nichts zu erben. Ein knappes Jahr nach meinem Studienbeginn "Finanzwesen" ist damals Onkel Harry in Rente und zurück nach Deutschland gegangen. Fünfzehn Jahre ist das her. Jedes Jahr ist er einmal für zwei oder drei Wochen nach Seoul gekommen, hat mich ins Theater oder zum Essen ausgeführt, hat sich um die Villa und den Garten gekümmert. Und nach meinem Bachelor Abschluss hat er mich nach Deutschland eingeladen. Zwei spannende Wochen lang hat er mir die aufregende Stadt Berlin gezeigt und mich zu vielen Plätzen geführt, die ihm oder meiner Mutter vor dem Umzug nach Korea etwas bedeutet haben.

Zu meinem hart erkämpften Masterabschluss ist Onkel Harry noch einmal nach Seoul gekommen. An allen entscheidenden Eckpunkten meines Lebens ist er fürsorglich und treu an meiner Seite gewesen.
Ich habe sein altes, barockes, irgendwie märchenhaftes Haus und den großen, in meiner Kinderphantasie verwunschenen Garten sehr geliebt. Aber neben dem Studium und dann dem Berufsstart war ich so sehr damit beschäftigt, zu leben und mich auszuprobieren, dass mein Verhältnis zu Onkel Harry heimlich und schleichend immer oberflächlicher wurde. Ich war auch nie wieder in Berlin. Es ergab sich einfach nicht. Onkel Harry war nach meinem Master nie wieder in Seoul. Und nach und nach ist der Kontakt dann recht dünn geworden.
Harry müsste jetzt ... 78? 78 sein. Wenn nicht ... Erbschaftsrecht. Will ich das jetzt wissen? Dann ist der Arbeitstag gelaufen, und der Berg auf meinem Schreibtisch wird noch größer.

Ein Schauder läuft mir den Rücken runter. Schnell lege ich den Brief beiseite und versuche sofort, mich in meine Arbeit zu flüchten, aber Horden von Erinnerungen rauben mir jede Konzentration. Innere Unruhe breitet sich aus, Kopfschmerzen aus Anspannung machen sich bemerkbar. Es ist zwecklos, Weglaufen funktioniert heute nicht. Nach einer Weile nehme ich wieder den Brief zur Hand und schließe zermürbt die Augen. Bilder schweben durch meinen Kopf - die breite Schaukel an dem knarzenden Ast des alten Spitzahorns hinterm Haus. Die Küche mit dem pfeifenden Teekessel auf dem Gasherd und den herrlich duftenden, selbstgebackenen deutschen Brötchen auf dem Tisch. Harrys klassisch eingerichtetes Bücherzimmer mit dem ausgeleierten Ohrensessel am Kamin, umringt von deckenhohen Regalen voller alter Bücher. Es roch immer ein wenig nach Staub und nach Abenteuer dort. Mein Kinderzimmer unterm Dach, eingerichtet wie eine geheimnisvolle Höhle voller Drachen und Schätze und ... Liebe.

„Nelli - ist alles in Ordnung mit dir? Du weinst die ganze Zeit still vor dich hin."
Nur mühsam tauche ich auf aus den warmen Bildern einer Kindheit voller Geborgenheit, Phantasie und Lebensfreude. Meine Kollegin vom Nachbartisch und beste Freundin So-Ra ist wieder zurück, hat sich zu mir runtergebeugt und schaut mich jetzt ganz besorgt an.
„Ist es etwas Schlimmes? Was da in dem Brief steht?"
Ich schüttele schnell den Kopf und wische mir die nassen Wangen ab.
„Ich ... weiß es nicht. Ich hab ihn noch nicht aufgemacht. Ich hatte nur auf einmal den Kopf voll mit alten Bildern und Erinnerungen an eine Kindheit voller Glück. Vielleicht ..."
„Warum machst du ihn nicht auf?"
„Jetzt? Hier?"
„Ach Süße, wenn du eh schon weinst, dann kann es doch nicht mehr schlimmer werden. Von uns dreien, die wir hier mit dir in diesem Büro sitzen, lacht dich bestimmt niemand aus."

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