Kapitel 2: Falsch eingestuft

Start from the beginning
                                    

*

„War ja klar, dass es zu so etwas kommen wird", höre ich eine tiefe Stimme sagen, als ich gerade damit beschäftigt war, ein paar Zettel auf meinem Schreibtisch zu ordnen. Ich hebe meinen Kopf und blicke in zwei wunderschöne blaue Augen. „Oh, hallo Oskar", sage ich freundlich, trotz des strengen Tones in seiner Stimme.

Bei seinem Anblick muss ich mir ein Grinsen verkneifen. Der oberste Knopf seines weißen Hemds ist geöffnet. Ich merke sofort, dass es ein anderes ist, als das, was er vor ein paar Tagen bei unserer ersten Begegnung getragen hat. Es hat einen viel dünneren Stoff. So dünn, dass ich glaube, seine Bauchmuskeln erkennen zu können – würden sie nicht durch die dumme Theke des Empfangs verdeckt werden. Neugierig richte ich mich auf und strecke mich, um doch noch einen Blick zu erhaschen.

„Willst du gar nicht wissen, was ich von dir will?", fragt er nun und mein Blick wandert wieder zu seinem Gesicht. „Doch, natürlich", meine ich und räuspere mich. „Louis Schneider. Du hast seine Beschwerden falsch eingestuft. Er hätte mindestens ein sehr dringend gebraucht. Dem Jungen ist fast der Knochen aus dem Arm herausgekommen. Du hast ihn aber als nicht so dringend eingestuft", erklärt er mir.

Ich erinnere mich nicht einmal an diesen Namen. Hatte ich ihn wirklich falsch eingestuft? Für gewöhnlich gehe ich immer auf eine Nummer sicher und stufte die Patienten, welche sich etwas gebrochen haben, um eine Stufe höher ein. „Das kann nicht sein", behaupte ich und er reicht mir ein paar ausgedruckte Papiere.

Tatsächlich. „NICHTDRINGEND" steht mit Blockbuchstaben darauf geschrieben. Darunter mein Name. „Ach wirklich? Willst du mir sagen, dass du nicht Ester Patrizia Kowalski bist?", fragt er, während sein genervter Blick auf mir liegt. „Nein, aber... das kann nicht sein", wiederhole ich und sehe den Zettel erneut an. „Das ist was Ernstes, Ester. Wenn das noch einmal vorkommen sollte, dann werde ich es dem Chef melden müssen. Es ist gefährlich, wenn du nicht einschätzen kannst, wie dringend ein Patient einen Arzt braucht", meint er. Ich senke meinen Kopf und starre immer noch auf die ausgedruckten Papiere. Ich habe diesen Patienten nicht in Empfang genommen. Oder doch? Es fühlt sich langsam ein bisschen so an, als würde ich durchdrehen. 

„Es wird nicht mehr vorkommen", bringe ich hervor und Oskar nickt. „Ich hoffe es. Wenn ich ehrlich bin, habe ich so etwas von dir schon erwartet. Was für ein Glück, dass du nicht Medizin studierst."

Auch wenn ich es ungerne zugebe, seine Worte treffen mich. Wieso weiß er überhaupt noch, dass ich Medizin studieren will? Das letzte Mal hatten wir uns vor neun Jahren gesehen. Scheinbar hatte er sich aber gemerkt, dass es schon immer mein Wunsch gewesen ist, Ärztin zu werden.

„Wenn sogar du es geschafft hast, ist es doch gar nicht so abwegig, dass ich es auch noch schaffe", platzt es aus mir heraus. Ich verziehe mein Gesicht. Für gewöhnlich bin ich eine Person, die nicht auf solche Kindereien eingeht, doch in diesem Fall hat er mich mit seinen Worten wirklich verletzt.

„Das wage ich zu bezweifeln, Ester", meint er und beugt sich näher zu mir. „Ich habe es bereits beim ersten Versuch geschafft. Das kannst du von dir wohl nicht behaupten, oder?"

Er sieht mich durchdringlich an und ich weiß für einen kurzen Moment nicht, was ich sagen soll. Dass er so überzeugt von sich selbst ist, schüchtert mich etwas ein. „Nein. Aber vielleicht haben sie dich mit jemandem verwechselt und dich fälschlicherweise aufgenommen", sage ich und wundere mich, woher das Selbstbewusstsein auf einmal herkommt. Er mustert mich kurz und scheint über meine Aussage nachzudenken.

„Das denke ich nicht, Ester. Immerhin habe ich das Studium mit Bravour abgeschlossen." „Das kann gut sein, aber wer weiß, ob du ihn dir ehrlich verdient hast", grinse ich. „Das ist aber allerhand, was Sie mir da unterstellen, Mrs. Kowalski", meint er und ich kann ein Schmunzeln auf seinen Lippen erkennen.

Der DoktorWhere stories live. Discover now