You never walk alone

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Jin Nico hat solche Angst, dass er es nicht in Worte fassen kann. Angst vor dem Unausweichlichen, dem Verlust seiner Schwester. Ein einziger Monat bleibt ihnen gemeinsam, bevor sie gehen muss, eingeholt wird vom Tod. Ein Monat ist viel zu wenig. Viel zu wenig um dem bleichen Mädchen, das fröhlich neben ihm auf dem schmalen Krankenhausbett sitzt, all die Liebe und Zuneigung zu geben, die sie verdient. Sie macht ihn glücklich, so unglaublich glücklich, jeden einzelnen Tag seines Lebens. Er liebt sie, mehr als sein eigenes Leben.
Jin Yumi bedeutet ihm die Welt, was es umso schmerzhafter werden lässt, sie bald zu verlieren. Doch viel mehr, als das es ihm schmerzt, lässt es seine Seele zerbrechen.
Und jedes Mal, wenn sie ihre kleinere Hand in seine legt und ihm mit ihrer sanften, engelsgleichen Stimme einzureden versucht, dass alles gut werden wird, zersplittert seine Seele mehr an dieser Lüge. Der Lüge, der er so gerne glauben schenken würde. Und auch, wenn die beiden die Augen davor verschließen, es sich nicht eingestehen wollen, dass ihnen keine gemeinsame Zukunft vergönnt ist, so wissen sie es doch. Sie Beide wissen, wie es kommen wird, wenn das Jahr zu Ende geht. Ihre selbst erbaute kleine Welt, in die so gerne absinken und sich in der Unendlichkeit verlieren, wird zerbrechen an der grausamen Realität. Sie wird ihre Farbe verlieren, in der sie strahlt, wenn die Geschwister lachen. Yumi, ihrer Lebenszeit beraubt. Nico, am Boden zerstört und zurücklassen. Allein in der Dunkelheit.

Doch Nico hat sich geschworen, die letzte Zeit, für sie zur schönsten Zeit, ihres viel zu kurzen Lebens zu machen. All das mit ihr zu erleben, was sie sich wünscht. Bei ihr zu sein. So wie sie jetzt aneinander gekuschelt auf dem Krankenhausbett von Yumi sitzen und gemeinsam in einem Album mit Fotos aus ihrer Kindheit blättern. Die 17 Jährige stopft ununterbrochen selbstgebackene, etwas verbrannte Schokoplätzchen in ihren Mund und zeigt hier und da auf eines der Bilder, während Nico ihr sanft durch die dunklen Haare fährt, die sie beide von ihrer Mutter geerbt haben. Diese Nacht muss sie zur Überwachung im Krankenhaus Seouls bleiben, Yumi hat sich gesträubt, ihr ginge es doch gut, doch der Arzt hat darauf bestanden. Sie will einfach nur nach Hause. Wenn man die große, vornehme Wohnung, in der sich die Umzugskisten stapeln und es in jeder Ecke nach frischer Wandfarbe stinkt, überhaupt zuhause nennen kann. Alles ist so fremd und ungemütlich. Nein, in Seoul sind sie nicht zu Hause.

In Shirakawa-gō, ihrem Heimatdorf in Japan hatten die beiden Freunde, jeder kannte jeden. Hier in Seoul, der Großstadt mit vielen Millionen Einwohnern, kennen sie niemanden. Jeder lebt stumm sein Leben, niemand interessiert sich für das Leben der anderen. Die vielen Abgase scheinen die Seelen die Einwohner zuvergiften und von den vielen aneinander gereihten Hochhäusern fühlt Nico sich eingeengt. Im Bergdorf, fernab der Zivilisation, dort sind sie Zuhause. Waren sie Zuhause. Blickten abends gemeinsam in den Abendhimmel und zählten Sterne. Streiften durch die Wälder. Fuhren Berghänge mit dem Schlitten hinab. All das ist Vergangenheit.

Niemand, aus der vierköpfigen Familie hatte umziehen wollen, doch Yumis Krankheitszustand ließ ein Leben fernab, von einem vernünftigen Krankenhaus nicht zu. Nico hatte den Tag nach vor Augen, als er von einem Streifzug im verschneiten Wald zurückkehrte, fröstelnd von der Kälte und mit roten Wangen. Er betrat fröhlich das warme, gemütliche Hause, das auf der kleinen Anhöhe thronte und Ruhe und Geborgenheit ausstrahlte. Heute war seine kleine Schwester nicht mit draußen gewesen und er freute sich schon sie wieder zu sehen. Obwohl sie drei-ein halb Jahre jünger war, als er, war sie doch seine beste Freundin. Ohne auch nur eine schleichende Ahnung betrat er das kleine Wohnzimmer und fand dort seine Eltern, die seine Schwester im Arm hielten. Die Kleine war bleich, heiseres Husten schüttelte ihren schwachen Körper.
Sie waren ins winzige Krankenhaus am Berghang gefahren, hatten dort die Diagnose erhalten, die alles zerstörte. Glitzernde Tränen sickerten aus den Augenwinkeln der damals 14 Jährigen, als ihr Vater traurig verkündete, dass sie umziehen müssten, in eine Stadt, in der sie behandelt werden könnte. Auch wenn eine Behandlung fast sinnlos war. Nico wusste, dass Yumi krank war, doch bisher hatte sie nie Probleme damit gehabt. Er fühlte sich schrecklich, doch er war seiner Schwester oder seinen Eltern keineswegs böse. Er wollte es ihnen nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon war. Also hatte sich der Umarmung wortlos angeschlossen, er war trotz aller Probleme dankbar, solch eine wundervolle Familie zu haben. So sehr vermisst die Berge, die unendliche Weite, aber vor allem vermisst er seine Familie, wie sie mal war. Als sie noch Zeit hatten, etwas miteinander zu unternehmen. Drei Monate leben sie jetzt hier und es noch immer genauso fremd wie am ersten Tag. Ein Umzug ist teuer, ihre Eltern müssen beide den ganzen Tag arbeiten und kommen abends erschöpft in ihre Wohnung zurück. Er seufzt und Yumi schaut ihn schräg von der Seite an. Kaum merklich schüttelt er den Kopf, um ihr zu symbolisieren, dass alles in Ordnung ist.

„Ich weiß, dass es schwer ist, Nico. Und es tut mir leid, dass du wegen mir, all das zurück lassen musstest, was du liebst", flüstert Yumi und blickt ihren Bruder traurig an.

„Wir sind zusammen, das ist die Hauptsache", lächelt Nico und versucht einen aufmunterten Blick aufzusetzen. „Ich lebe in der selben Stadt wie BTS, da bist du mir doch egal", spaßt Yumi und klimpert mit den Wimpern.

„Als ob irgendein daher gelaufener Dude, der auf 'ner Bühne umher springt, ins Mikro kreischt und sich wichtig macht, dir wichtiger ist als dein krass cooler Bruder! ", Nico verschränkt grinsend die Arme vor der Brust und duckt sich, alsein Kissen über ihn hinweg fliegt und in der Ecke des Zimmers landet. „Nicht mal werfen kannst du!", zieht er sie auf. Kurze Zeit liegt Nico sich krümmend vor Lachen auf Bett, während Yumi ihn durchkitzelt, bis eine Krankenschwester ins Zimmer kommt und die Beiden nach draußen jagt, mit der Begründung, sie müssten sich bewegen. Lachend ziehen die Beiden ihre Winterjacken und Mützen an und treten aus dem Zimmer. Der Gestank von Desinfektionsmittel schlägt ihnen auf dem schmalen Flur entgegen. Es ist der Gestank von Tod. Nico rümpft die Nase und zieht seine Schwester weiter. An der Rezeption werden sie noch einmal verwarnt, rechtzeitig zurückzukommen und anzurufen, falls es Yumi schlechter geht. Da sie ganz neu in der Stadt sind, muss sie sich erst noch einigen Untersuchungen unterziehen, bis sie aus dem Krankenhaus vorerst entlassen wird. Langsam schlendern sie durch die überfüllten Straßen und erkunden die Stadt. Irgendwie verirren sich die Beiden auf einen kleinen Weihnachtsmarkt. Es ist für Nico, als würde die Zeit stehen bleiben, wie immer wenn er mit seiner Schwester Zeit verbringt. Und doch scheint ihm die Zeit, wie Sand durch die Finger zu rieseln. Bis gegen 17 Uhr abends die Sonne versinkt und die Dunkelheit hereinbricht, sind die Beiden unterwegs, dann schleift Nico Yumi zurück zum Krankenhaus. „Sei schön brav!", ermahnt er seine Schwester und drückt ihr einen Kuss auf die Haare. Sie umarmen sich kurz, dann ist Yumi im Gebäude verschwunden und Nico beschließt noch etwas herumzulaufen. Es ist bereits stockdunkel, als er den winterlichen Stadtpark erreicht. Er ist alleine. Das Licht, das vonden Straßenlaternen ausgeht, erhellt den breiten Kanal, an dem Nico lustlos entlang spaziert etwas. Das Wasser ist tief und der Grund ist nicht zu sehen. Nicos Blick wandert ruhelos über die Umgebung, bis er an einer Person hängen bleibt, die auf der Brücke, die 50 Meter weiter über den Kanal führt, steht und sich recht weitvorne über beugt. Mit zusammen gekniffenen Augen, beobachtet Nico das Vorgehen weiter und Sorge macht sich in ihm breit. In seinem Kopf scheinen alle Alarmglocken zu schrillen.

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At the end of this road you walk alone
Will you step on it, whatever there may be
Sometimes we may get tired or sick
That's okay, I am by your side
If you and I are together
We can smile





The untold truth -inner demonsWhere stories live. Discover now