Kapitel 1: Aktenlage

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Vic klappte die Handakte zu und legte sie auf den Stapel neben sich.
Fünfzehn Minuten Warten waren genug. Der Angeschuldigte war wieder nicht erschienen.
Fünfzehn Minuten, in denen sie lieber in ihrem Büro gesessen und an ihrem gemeinschaftlichen Ladendiebstahl gearbeitet hätte.
Sie blickte zu ihrem Kollegen auf der Richterbank. Der knöpfte sich gerade wieder die Richterrobe zu.
Er räusperte sich und sprach in das Tischmikro: "Aufgerufen wird die Sache von der Heydt."

Ein Junge mit gescheitelten, gegelten blonden Haaren trat zusammen mit seinem über 60 jährigen Anwalt in den Gerichtssaal ein. Ein ungewöhnlicher Anblick, wenige Jugendliche hatten einen Anwalt. Und schon gar nicht so einen. Er wirkte nicht wie ein Strafverteidiger – die waren ein ganz eigener Schlag – er wirkte wie ein Erbrechtler für gehobenes Klientel. Seine mit goldenen Ornamenten verzierte Krawatte passte hervorragend zu seinem teuer aussehenden jagdgrünen Anzug, über den er locker die fusselfreie Anwaltsrobe geworfen hatte.
Vic könnte wetten, über seinem freistehenden Schreibtisch in geölter Eiche rustikal hing ein Gämsengehörn.

Sie blätterte die Anklageschrift der Akte für 10:45 Uhr auf. Der Richter fragte unterdessen routinemäßig die persönlichen Verhältnisse ab: "Familienstand?" – "Joa, gut, denk ich mal." Der Heranwachsende lehnte sich achselzuckend auf der Anklagebank zurück.

Vic fing den Blick des Richters ein. Dieser hob die Augenbrauen blieb aber weitaus professioneller als sie. Sie musste sich ein Grinsen hart verkneifen. Auch der Anwalt schmunzelte und klopfte seinem Mandanten auf die Schulter: "Ledig meint er, er ist ledig."
– "Wobei das auch gut sein kann – unverheiratet zu sein", fügte der Richter trocken hinzu.

Langsam dämmerte es dem Jungen und er lief so lachsrosa an, wie sein Hilfiger Feinstrick Pulli.

Vic erhob sich auf ein kurzes Nicken des Richters und verlas die Anklageschrift: "Die Staatsanwaltschaft legt aufgrund ihrer Ermittlungen dem Angeklagten folgenden Sachverhalt zur Last: Am 18.06.2022 gegen 1:35 Uhr (...) bezeichnete er die Polizeikommissarin als 'Scheiß Miststück' um seine Missachtung auszudrücken. Strafantrag wurde form- und fristgerecht gestellt. Der Angeklagte wird daher beschuldigt, als Heranwachsender einen anderen beleidigt zu haben."

Die Mutter des Angeklagten saß im Zuschauerbereich, fasste sich an ihr seidenes Halstuch und schluckte. Vic blätterte durch die Handakte und sah den Auszug aus dem Bundeszentralregister. Keine Einträge.
Derweil erhielt der Angeklagte Gelegenheit zur Stellungnahme, er schilderte den Abend aus seiner Sicht: Er wollte einfach nur mit seinen Leuten aus dem Abijahrgang am Staden abhängen, alle waren alkoholisiert und dann kam die Polizei wegen eines anderen Einsatzes, er selbst war natürlich nicht an der Schlägerei beteiligt, aber sie wollten ihn nicht mehr durchlassen und das hatte er nicht eingesehen, aber jetzt hat er natürlich die Einsicht, dass man deswegen niemanden beleidigen darf und das käme auch nie wieder vor.

Danach wurde die junge Polizistin, kaum älter als der Angeklagte selbst, als Zeugin vernommen. Anschließend entschuldigte sich der Angeklagte nochmals bei ihr persönlich.

Vic hakte befriedigt die Punkte "Geständnis" und "Entschuldigung" auf ihrem Zettel für das Plädoyer ab und umkringelte dann "30 Arbeitsstunden" als Vorschlag für die Strafzumessung. Günstiger kam er nicht weg. Sie war gerne milde, wenn man dem Jugendlichen ansah, dass die Familie ihm wegen der Aktion schon genug die Hölle heiß machte. Die arme Frau Mutter musste aus allen Wolken gefallen sein, als die Ladung zum Gerichtstermin kam – nicht, dass der gute Ruf der Familie noch beschädigt wurde.

Vic erhob sich zum Plädoyer. Würdevoll schwangen die weiten Ärmel ihrer Staatsanwaltsrobe mit. "Hohes Gericht, (...) aufgrund der Tatsache, dass der Angeklagte bisher strafrechtlich nicht einschlägig in Erscheinung getreten ist, ist eine Jugendstrafe noch nicht erforderlich. Für den Angeklagten spricht, dass er die Tat gestanden hat und sie bereut, (...)"

Das SchattenkabinettWhere stories live. Discover now