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Die blassrosa Spieluhr stand vor ihr auf dem Boden. In ihrer Mitte drehte sich eine kleine Ballerina langsam im Kreis, sanfte Musik drang leise aus ihrem Inneren.

„Die hast du von deinen Eltern, Klein Amy, nicht wahr? Sie waren heute hier." Fasziniert starrte Billy die Uhr an. Wenn man sich konzentrierte, konnte man hören, wie sich die Zahnräder drehten, die sie antrieben.

Klein Amy schlang die Arme um die Knie. „Ja."

Billy summte. „Genau wie vor drei Tagen. Und wie letzte Woche. Und die Woche davor. Und die davor." Er legte den Kopf schief. „Du bekommst oft Besuch."

„Und?" Klein Amy spielte an ihren Nägeln herum. „Du bekommst nie Besuch."

„Oh doch, ich bekomme Besuch, Klein Amy." Billys Augen funkelten, als er grinste. „Nur nicht vor drei Tagen oder vor einer Woche. Oder in der Woche davor. Aber Geschenke bekomme ich trotzdem nicht."

„Meine Mutter dachte, ich würde besser einschlafen, wenn ich sie hätte. Als ich noch ein Kind war, habe ich sie geliebt."

Billy streckte die Hand nach der Ballerina aus, hielt dann aber inne. „Du schläft aber nicht besser ein. Du willst sie nicht sehen, deine Familie, meine ich. Hm, Klein Amy? Ist es nicht so? Du würdest erst besser schlafen, wenn du..." Er sah sie an. „... tot wärst. Nicht wahr, Klein Amy."

Er hockte sich so neben sie, dass er ihr Profil ungehindert betrachten konnte. „Dann müsstet du deine Schwester nicht mehr sehen." Er zog eine ihrer Haarsträhnen zwischen seinen Fingern hindurch. „Deine hübsche, hübsche Schwester."

Seine Hand wanderte ihre Schulter zu ihrem Unterarm hinab. Weißer Verband verdeckte die frischen Narben. „Wenn es nach dir ginge, würdest du seit drei Tagen besser schlafen." Wieder zog das Grinsen an seinen Mundwinkeln. „Als du sie das letzte Mal gesehen hast, deine wunder, wunderhübsche Schwester. Aber es hat nicht funktioniert, Klein Amy. Eine Narbe mehr. Und jede Narbe entfernt dich weiter von deiner wunderhübschen Schwester." Er hob ihren Handrücken an seinen Mund, sein heißer Atem traf ihre kalte Haut. „Ist es nicht so, Klein Amy?"

Er ließ sie los. „Weißt du, Klein Amy, jeder Mensch hat Grenzen. Meine Grenze ist dieses Gebäude. Deine Grenze ist dieses Gebäude und der Garten. Die Grenze meiner Mutter ist dieses Land. Eines normalen Menschen Grenze ist die Atmosphäre. Eines Astronauten Grenze ist die Unendlichkeit." Er hob einen Finger. „Möchte man meinen. Aber die Wahrheit ist, Klein Amy, dass wir alle gefangen sind. Denn unser Leben hängt nur von einem ab: Unserem Körper. Logisch, nicht wahr, Klein Amy? Wissenschaftlich belegbar, das magst du doch so gerne, Klein Amy. Physik und Biologie." Er kicherte.

„Wenn der Körper nicht mehr funktioniert, bist du tot. Mausetot. Aber wir vergessen, dass dein Leben nicht nur davon abhängt, ob dein Körper funktioniert, sondern auch davon, wie er aussieht, Klein Amy. Bist du groß, klein, dick dünn, schwarz, weiß – das alles beeinflusst dein Leben. Bist du klein, stehen deinen Chancen schlecht, um Profibasketballer zu werden, bist du dick, wirst du kein Model." Seine Augen bohrten sich in ihre. „Bist du hässlich, wirst du nicht schön. So schön wie deine Schwester."

Billy ließ die Fingerknöchel knacken, einen nach dem anderen. „Aber du kannst gegen alles etwas unternehmen: Du kannst die Zähne bleichen und sie gerade stellen, du kannst die Haut straffen und bräunen, du kannst dich strecken lassen, wenn du zu klein bist – aber du wirst nie zufrieden sein. Immer wird es etwas geben, das dir nicht gefällt, Klein Amy. In deinen Augen wirst du immer hässlich sein."

Billys plötzliches, gackerndes Lachen ließ Klein Amy wie schon so oft zusammenzucken. „Was haben die Mädchen aus deiner Klasse zu dir gesagt? Dass du fett bist? Haben sie das? Haben sie dir gesagt, dass du fett bist, haben sie es dir ins Gesicht gesagt, Klein Amy? Haben sie? Haben sie?" Er packte sie an den Schultern. „Und, was hast du dagegen gemacht, Klein Amy? Hast gemalt. Schöne rote Linien auf deinen fetten, fetten Arm."

Kichernd lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand. „Was haben sie dann getan? Dich dumm genannt? Hast du es dir ins Fleisch geschnitten? D-U-M-M, vier Buchstaben, rot und glänzend, hast du? Dann haben sie deine Narben gesehen, nicht wahr Klein Amy, haben dir gesagt, dass du hässlich bist, so hässlich und so erbärmlich." Er kicherte erneut, als Klein Amy stumm blieb.

„Und dann hast du in den Spiegel gesehen und da standst du, Klein Amy, fett, dumm, hässlich und erbärmlich. Und neben dir, Klein Amy, weißt du was neben dir stand? Da stand diese wunderschöne, perfekte Spieluhr, Klein Amy, gleich neben dir auf dem Regal. So perfekt war sie, wie sich da drehte, die kleine Ballerina, in ihrem pinken Kleid." Mit dem Finger berührte er die tanzende Figur. „Die wunderschöne Ballerina, in ihrem wunderschönen Kleid, mit ihrer wunderschönen glatten Porzellanhaut. Und daneben standst du, Klein Amy, hässlich, erbärmlich, fett und dumm." Er drehte den Kopf zu ihr und sah sie an.

„Also wirst du wütend und-", er schleuderte die Spieluhr gegen die Wand, „-wirfst sie zu Boden. Doch-", er stellte die Uhr wieder auf, „-die Ballerina dreht sich weiter. Runde um Runde um Runde. Und sie ist noch immer so wunderschön wie zuvor. Also zerstörst du sie." Er schnippte gegen den goldverzierten Sockel der Figur, die Augen noch immer auf die Ballerina gerichtet. „Und siehst zu, wie ihre wunderschönen Porzellanbeine einknicken und ihre wunderschönen Porzellanarme abbrechen und ihr wunderschöner Porzellankopf davonrollt. Und dann, Klein Amy, ist es vollbracht." Er sah auf. „Bis einer kommt und sie wieder zusammenklebt."

Klein Amys Augen suchten nach seinen. „Warum erzählst du mir das?"

Ein träges Lächeln kroch auf Billys Lippen. „Warum denkst du denn, Klein Amy?"

Sie hob die Schultern.

„Weil du, Klein Amy, vielleicht eine solche Ballerina bist. Du standst auf einem Regal, neben einem der Mädchen aus deiner Klasse. Und da drehtest deine Runden, Runde um Runde um Runde."

Sein Blick fand ihren. „Bis du fielst."

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⏰ Last updated: Sep 26, 2015 ⏰

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Blau wie die SeifenspenderWhere stories live. Discover now