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Regungslos starrte Anne an die blanke Wand gegenüber. Das Holzbrett, auf welches sie eigentlich starrte, sah sie überhaupt nicht mehr. Anfangs hatte sie die Maserungen des Holzes gemustert. Sie hatte auswendig gelernt, an welchen Stellen sich die Nuancen aufhellten und an welchen sie sich verdunkelten.

Sich verdunkelten, wie ihr Herz an diesem schrecklichen Tag. Seit dieser Nachricht hatte Anne nicht ein einziges Mal gelächelt. Nicht ein einziges Mal konnte sie sich dazu durchringen. Auch nicht in Aramis' Gegenwart.

Er hatte versucht sie aufzuheitern; sie in Parks begleitet, für sie beide Tee zubereitet. Doch alle seine Gesten stiessen bei ihr auf eine kalte Mauer der Trostlosigkeit. Nichts konnte vermochte sie aus ihrem düsteren Loch der Trauer zu entführen. Nicht mal für eine Sekunde.

Ihr Gemahl hatte sie ihrer Freiheit beraubt. Er hatte sie ihres Glücks beraut. Er hatte ihr jegliche Liebe verwehrt. Und nun hatte er ihr ihre engste Vertraute Constance und ihren Sohn Louis genommen.

Seit dieser verhängnisvollen Nachricht verspürte Anne keine Lust mehr auf das Leben. Sie war es Leid. Sie war es Leid, wie man ihr entriss, was ihr lieb und teuer war.

Doch Anne wusste, dass sie diesem Leben, falls man es noch so betiteln konnte, nicht entfliehen durfte. Ein vierjähriges Kind, das sie nicht sehen durfte, wartete hinter dicken, kalten Mauern auf sie. Und selbst wenn die Aussicht noch so trüb war, schuldete sie Constance, dass sie sich geduldete und auf den Tag wartete, an dem sie ihren Sohn wieder in die Arme schliessen konnte. Constance hatte fest geglaubt, dass dieser Tag kommen würde, und so glaubte auch Anne daran. Bis es jedoch soweit war, würde sie weiter in aufrechter Position sitzend verharren und da Holzbrett anstarren.

Sie hörte die Schritte nicht, die sich ihr näherten, so sehr hatte sie sich von ihrem Umfeld abgeschottet. Fahrig zuckte sie zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. „Lass uns einen Spaziergang machen", schlug er vor.

Für einen Bruchteil einer Sekunde überlegte sich Anne tatsächlich seinem Vorschlag nachzugeben, dann aber besann sie sich wieder. „Danke, ich möchte lieber hier bleiben."

Vorsichtig liess Aramis sich neben sie auf das Polster sinken. Er nahm ihre Hand in seine, doch sie spürte die Wärme seiner Haut nicht mehr auf ihrer. Sie spürte weder seine Wärme, noch seine Hoffnung, noch seine Liebe. Sie spürte nichts.

„Anne... Du kannst dich nicht bis in alle Ewigkeiten in diesem Zimmer verstecken. Du kannst dich nicht vor der ganzen Welt zurückziehen", argumentierte er wie so oft im letzten Jahr. Doch weder bei ihr noch bei d'Artagnan hatten seine gutgemeinten Worte Wurzeln geschlagen. Mit Constance' Tod waren die Königin und der einst gewitzte Musketier tiefen Depressionen verfallen, aus denen sie keinen Ausweg fanden.

„Heute ist ihr Geburtstag - heute wäre ihr Geburtstag." Nur ein Wispern, nur ein Hauch. Lauter brachte Anne die Worte nicht über die Lippen. Hätte sie lauter gesprochen, hätte es ihr sorgsam aufgebauter Panzer mit einem solchen Ruck zerstört, dass es ihr den Atem geraubt hätte. Zuerst den Atem, dann die Fähigkeit aufrecht zu sitzen und schliesslich die Kontrolle über sich selbst. Aber sie durfte die Kontrolle nicht verlieren. Sie durfte niemanden hinter ihre Fassade lassen.

„Constance würde nicht wollen, dass du ihretwegen nicht mehr glücklich bist." Nicht selten hörte sie diese Worte. Von Aramis, von Athos und Portos, von der Zofe, die sich um Anne kümmerte. Doch sie alle bekamen dieselbe emotionslose Antwort zu hören: „Das kannst du nicht sagen. Niemand weiss, was sie wollen würde und was nicht, denn mein Ehemann hat sie kaltherzig umgebracht."

Stille kehrte ein. Wäre Anne noch sie selbst gewesen, hätte sie Aramis' Leid erkannte. Dann hätte sie ihn in ihre Arme gezogen und ihm versichert, dass die Liebe zwischen ihnen nicht verloren war. Doch Anne war nicht mehr die Anne, die seinen Besuchen entgegenfieberte. Nun war sie die Anne, die seinen Blicken auswich, weil sie weder seine Liebe noch seine Angst sehen wollte.

„Anne, lass mich dich trösten", verlangte er, doch wie immer wies sie ihn ab. „Ich möchte alleine sein." Anne brachte es nicht über sich seine Nähe länger zu ertragen und so rückte sie ein Stück von ihm ab. Seine Nähe, seine Liebe. Das alles erinnerte sie nur noch mehr an das Verlorene. Dass sie durch ihr Verhalten nur noch mehr verlieren könnte, überlegte sie nicht.

„Aber", versuchte er es ein weiteres Mal vergeblich. „Aramis, bitte. Ich möchte alleine sein." Ihre Worte waren kalt und hart. Und obwohl sie Aramis immer und immer wieder von sich wegstiess, kehrte er immer und immer wieder zu ihr zurück. „Falls du mich brauchst: Ich bin draussen im Garten."

Er stand auf und verschwand aus der Stube. Er hörte nicht mehr, wie Anne ruckartig einatmete und leise flüsterte. „Danke."

Das Leben einer KöniginWhere stories live. Discover now