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Zögerlich umschmeichelte der Wind ihr Gesicht. Er streichelte über ihre eingefallenen Wangen, küsste die geschwollenen Augenlieder. Er frohlockte Anne Schritt um Schritt weiter nach Vorne zu gehen. Und wenn sie verunsichert Inne hielt, stiess er sie unsanft in den Rücken, riss sie an den Haaren vorwärts.

Die Königin blickte auf Paris nieder. Die Fackeln der Stadtwache leuchteten hell durch die Dunkelheit, doch selbst die verspielten Flammen, vermochten die Kälte in Anne nicht vertreiben. Eisig blies ihr der Wind in den Nacken. Ein Frösteln überfiel Anne. Unkontrolliert begannen ihre Zähne zu klappern, doch sie schlang die Arme nicht um ihren Körper. Sie rieb sich nicht die Hände, um die Temperaturen zu überlisten.

Das Leben schien weit weg zu sein. So weit entfernt, dass Anne vergessen hatte, wie es sich anfühlte lebendig zu sein. Als Hülle ohne Geist wankte die gebrochene Frau weiter der steinernen Brüstung entgegen.

„Lass dich fallen", säuselte der Wind. „Es ist ganz einfach. Lass los." Erst jetzt bemerkte Anne, dass sich ihre klammen Hände wie die Ertrinkenden am Stein festklammerten. Gleichgültig beobachtete sie ihre Finger, die sie einen nach dem anderen vom letzten Hindernis löste. Dann war sie frei. Frei um zu fliegen. Bereit loszulassen. Sie schloss die Augen und trat einen letzten Schritt nach Vorne. Ein Schrei hallte durch die sternenlose Nacht.

„ANNE! Mon Dieu, was machst du da? Du hast mich erstreckt. Wolltest du etwa springen?", kreischte Constance in Panik. „Ich weiss nicht", murmelte Anne und versuchte sich aus dem Klammergriff ihrer Zofe zu befreien, aber diese liess sie nicht los. Im Gegenteil: Sie zerrte Anne mit hinein ins Schloss, weg vom hohen Turm, weg von der Finsternis.

Erst als die beiden Frauen in den Gemächern der Königin in Sicherheit waren, lockerte Constance ihren Griff. „Ich wollte springen", gestand Anne, „aber ich konnte es nicht. Ich konnte es nicht, weil ich noch einen letzten Funken Hoffnung in mir trage, dass es nicht so ist, wie es scheint. Nicht so ist, wie mir die Welt zu verstehen gibt. Nur noch ein letzter Keim ist übrig geblieben, den die Realität noch nicht zu ersticken vermocht hat."

Tröstend strich die Zofe ihrer Gebieterin über die ruinierte Frisur. „Anne, leg dich hin und schlaf ein wenig. Morgen sieht alles wieder anders aus." Doch ihre aufmunternden Worte stiessen bei der Königin nur auf Resignation. „Wenn du meinst. Gute Nacht", antwortete diese emotionslos. Nichts schien ihr im Moment lebenswert.

Die Zofe wünschte ebenfalls eine gute Nacht und verliess das Zimmer. Nachdem sie einen Wachmann angewiesen hatte vor den Gemächern der Königin Wache zu halten und die Königin keinesfalls hinauszulassen ohne Begleitung, suchte Constance ihren Mantel, um sich in die Stadt zu begeben. In einem kleinen, ruhigen Lokal traf sie sich mit d'Artagnan.

Verzweifelt fiel sie ihm um denn Hals und erzählte leise, was sich ereignet hatte. Bestürzt strich er seiner Geliebten über die Haare und entschloss, sich seinen Befehlen zu widersetzten, um seiner Constance etwas Last von den Schultern zu nehmen.

„Es gibt da etwas, das du wissen solltest", begann er. „Ja?", schniefte sie und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen, doch d'Artagnan zog ihre Hand beiseite und küsste die Tränen weg, bevor er erneut zum Sprechen ansetzte.

„Aramis befindet sich tatsächlich in England bei Milady de Winter. Aber es ist nicht wie alle denken. Er gibt sich als ihr Geliebter aus, um an Informationen zu kommen. Ich kann dir nicht sagen, was für Informationen das sein sollen, das weiss zur Zeit nur die Milady selbst, aber sie sind so wichtig, dass Aramis nicht einen Augenblick gezögert hat den Auftrag anzunehmen. Er wusste, dass Anne wahrscheinlich davon Wind bekommen und dass es ihr das Herz brechen würde, aber er hat sich darauf eingelassen. Es muss also wichtig sein. So wichtig, dass er dafür seine grosse Liebe aufgegeben hat. Ich weiss nicht, ob ich das auch getan hätte."

„Es gibt bestimmt vieles, das dir wichtiger ist als ich", meinte Constance mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen. „Wer sagt, dass ich von dir gesprochen habe?", scherzte er. Ein schelmisches Grinsen auf dem Gesicht. Constance lachte. Wegen seinem Grinsen und weil sie Morgen in aller Frühe ihrer Königin eine gute Neuigkeit überbringen konnte.

Wieder ernsthaft wandte sie sich an d'Artagnan: „Ich muss es ihr sagen." Er nickte. „Ja, das musst du." Auch das Lächeln in seinen Augen war verschwunden. „Bringe ich dich damit nicht in Schwierigkeiten?", hakte seine besorgte Geliebte nach. „Mhh, vielleicht schon. Aber das ist es mir wert."

Er lächelte sie an und sie gab ihm einen kleinen Kuss. „Manchmal könnte ich dich fast mögen." Jetzt musste er laut lachen. „Ich weiss, dass du mich magst!" Neckisch drückte er ihr einen weiteren Kuss auf die Nasenspitze.

„Es erstaunt dich vielleicht, aber nicht jeder findet dich so toll, wie du dich findest", konterte sie. „Wirklich nicht? Schon komisch... Komm ich begleite dich zurück auf das Schloss. Ich möchte nicht, dass du alleine durch dunkle Gassen gehen musst."

Das Leben einer KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt