My story - Alea Aquarius

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Weit erstreckte sich vor ihr die dunkle Oberfläche des Loch Ness. Der See sah geheimnisvoll aus. Kleine Wellen wanderten stetig über das Wasser.

Und irgendwo dort unten würde sie die Antwort finden. Die Antwort auf all ihre drängendsten Fragen. Wer war sie? Warum war sie so – nun ja, anders - als alle anderen Menschen, die sie kannte? Wieso hatte sie das Gefühl, dass sie im Wasser zuhause war, dass sie nirgendwo anders sein sollte, wenn sie noch kein einiges Mal mit der kalten Flüssigkeit in Berührung gekommen war?

Der Grund dafür war, dass sie sterben würde, sobald sie mit kaltem Wasser in Berührung kam. Der Fachbegriff dieser seltsamen Krankheit war Kälteurtika. Nichts hasste sie mehr als dieses Wort. Es stand für all ihre unerfüllten Wünsche, ihre Sehnsüchte, ihre Träume. Unerreichbar. Wieso? Wieso hatte das Schicksal sie so bestraft?

Sie WOLLTE ins Wasser. Ihr ganzer Körper schrie, sie solle gefälligst alle Vorsicht über Bord werfen und einfach in den See springen. Aufgeben. Kurz das Gefühl genießen, bevor der Schmerz einsetzte.

Aber das würde sie nie wagen. Sie liebte ihr Leben. Und ihr Adoptivvater Kimya... Das konnte sie ihm nicht antun.

Schließlich hatte er ihr ermöglicht, hier zu sein. Er hatte sich Urlaub von dem Krankenhaus genommen, wo er als Krankenpfleger arbeitete, all sein Gespartes verwendet, um den Zug zu buchen, der sie nach Calais gebracht hatte, um die Fähre, mit der sie den Ärmelkanal überquert hatten, zu bezahlen und um schlussendlich ein Auto – eine alte Klappkarre, die Romana sofort ins Herz geschlossen hatte – zu mieten und hierherzufahren.

Und das alles nur wegen der Schneekugel. Eines Tages nach der Schule hatte sie sie entdeckt – im Schaufenster des Ramschladens, an dem sie jeden Morgen auf dem Weg zur Schule vorbeikam.

Die Fünfzehnjährige liebte alte Sachen. Ob Autos, nutzlose alte Schlüssel oder verrostete Fensterläden – sie machten sie nachdenklich. Sie ließen Geschichten entstehen.

„Ich weiß nicht, wie du das immer machst.", hatte Kimya gesagt. „Egal, was für ein Buch du meinen Patienten vorliest, du scheinst sie förmlich zu verzaubern. Du lässt die Magie der Worte wiederaufleben. Und wie du Stimmen nachmachen kannst, grenzt an Wunder."

Sie wusste das noch ganz genau. Jedes Wort, jede Erzählung, die sie je gehört hatte, blieb für immer in ihrem Kopf haften. Es war fast, als besaß sie eine unendlich große Schublade, die genug Platz für all das bot. Und gleich daneben noch eine für Fremdsprachen.

Sie beherrschte Englisch, Tschechisch, Deutsch, Spanisch und Suaheli. Trotz allem hatte sie das Gefühl, sich mit all den Worten, die ihr zur Verfügung standen, nicht verständigen konnte.

Da war noch eine Sprache, tief in ihrem Körper vergraben. Sie konnte sie spüren, wie sie unter allem pulsierte. Ruhig wie das Meer.

Das erste Mal, dass sie den Ozean gesehen hatte, war in diesem Winter gewesen. Der Ärmelkanal hatte sich vor ihr erstreckt, weit und versprechend. Wie gerne sie schwimmen gegangen wäre – aber sie durfte nicht.

Sie hatte gespürt, dass dort Geschichten lauerten. Unendlich viele Worte, viele Leben, viele Geheimnisse. Freude, Liebe, Schmerz und Trauer. Eine eigene Welt.

Das selbe Gefühl hatte sie jetzt auch. Hier waren Antworten.

Nachdenklich holte das fünfzehnjährige Mädchen mit den roten Haaren die Schneekugel aus ihrer Jackentasche.

Wie unscheinbar sie doch wirkte. Wenn man sie schüttelte, stoben die Seifenflocken durch die Blase und landeten schließlich auf einer Miniversion des echten Loch Ness.

Das besondere an ihr war die Schrift. Blau flackerten über dem See die Worte „Kommt nach Loch Ness. Hier findet ihr Antworten".

Sie hatte die Kugel für einen Spottpreis von 50 Cent kaufen können. So wie er geklungen hatte, war der Verkäufer froh, dass er sie loswurde.

OneshotsNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ