Ich bin ein Zerrbild deiner Selbst

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Jetzt stehe ich hier auf unserem dunklen, staubigen Dachboden und blicke in den Spiegel vor mir.

Ich kann mich zwar sehen, doch ich erkenne mich nicht.

Ich sehe, was andere Menschen von mir sehen, doch ich erkenne mich dabei nicht.

Ich sehe ein Mädchen mit schönen langen, braunen Haaren, in der Mitte der Pubertät, doch ist es das, was ich möchte?

Ich würde viel lieber einen Jungen mit schönen kurzen, braunen Haaren sehen mit einem flachen Oberkörper und den ersten Bartstoppeln im Gesicht.

Als ich so in den Spiegel blicke, sehe ich auf einmal meine Mutter neben mir stehen, die mir ein Kleid vor den Körper hält und versucht mich davon zu überzeugen, dass es an mir super schön aussehen würde. Aber ich möchte es nicht tragen. Ich möchte viel lieber einen schwarzen Anzug mit einer schönen, roten Fliege.

Ich sehe meinen Vater mit mir zusammen in einem Spielzeugladen stehen. Ich zeige begeistert auf ein Playmobil Set mit Rittern. Doch mein Vater zieht mich davon weg und sagt das sei nur etwas für Jungs. Schon damals habe ich nicht verstanden, was das zu bedeuten hat und heute noch viel weniger.

Ich sehe meine Kindergartenfreunde vor mir, die Vater, Mutter, Kind spielen wollen. Ich möchte der Vater sein, doch sie lachen mich aus und sagen ich könnte niemals der Vater sein, da ich kein Junge wäre.

In der Grundschule wurde ich für meine Kleidung ausgelacht. Sie fragten mich ständig, ob ich ein Junge oder ein Mädchen wäre. Sie lästerten über mich.

In der weiterführenden Schule wurde es kein bisschen besser. Es wurde eher die Steigerung der Grundschule. Was ich schon so alles über mich ergehen lassen musste einzig und alleine aufgrund meines Erscheinungsbildes.

„Transe"

„Halte Abstand von ihr, sie will doch bestimmt ein Junge sein!"

„Bei uns darfst du dich nicht mehr umziehen du Mannsweib"

Wenn die nur wüssten wie oft ich Nachts schon wach lag und mich gefragt habe, ob ich vielleicht als Junge wiedergeboren werden könnte, wenn ich einfach alles beende.

Einmal war ein bekannter der Familie zu Besuch und während des Essens wurde der Fernseher im Hintergrund laufen gelassen. In dem Moment ging es darum, ob für trans Menschen die Namens- und Personenstandsänderung leichter gemacht werden soll.

Immer, wenn eine positive Bemerkung in Richtung des neuen Gesetzes gemacht wurde, dann haben sich der Bekannte und mein Vater darüber lustig gemacht. Immer, wenn eine negative Bemerkung, welche gegen das Gesetz sprach kam, dann haben sie das gefeiert.

Ich habe irgendwann einfach enttäuscht den Tisch verlassen mit den Worten ich hätte Kopfschmerzen und würde mich lieber ein bisschen hinlegen wollen. In Wahrheit lag ich mal wieder die ganze Nacht wach und fragte mich was ich falsch gemacht hatte.

Ich schaue nach vorne in den Spiegel und kann beobachten, wie ich sich die Augen meines Ebenbildes langsam mit Tränen füllen.

Wieso werde ich scheinbar grundlos von so vielen Menschen gehasst? Ich tue doch niemandem irgendwas. Ich möchte einfach nur ich sein können.

Ich blicke beschämt nach unten. Ich kann meinem weinenden selbst einfach nicht in die Augen sehen.

Einen Moment lang bleibe ich so stehen, bis mir ein kleiner Lichtstrahl auf dem Boden auffällt. Ich verfolge ihn mit meinen Augen und mir fällt ein kleine Fenster hinter mir auf, durch das mithilfe eines kleinen Vorhanges die Lichtstrahlen der Sonne ausgesperrt werden.

Fast mechanisch bewege ich mich auf den kleinen Vorhang zu und reiße ihn einfach zur Seite.

Eine Flut aus Licht überströmt augenblicklich den Raum und ich schlage reflexartig meine Hände vor meine Augen.

Als ich sie vorsichtig wieder wegnehme stelle ich mich erneut vor den Spiegel und muss verwundert eine Sache feststellen.

Das auf den Spiegel strahlende Licht wurde in diesem so gebrochen, dass sich überall auf dem Dachboden kleine Regenbögen bildeten.

Auf einmal durchströmte mich ein lange nicht mehr gespürtes Gefühl. Hoffnung.

Auch tat ich etwas, das ich lange nicht mehr getan hatte. Ich lachte und das aufrichtig. Nicht gezwungen, weil ich wusste, dass ich das jetzt tun sollte, oder weil es mir gesagt wurde. Ich lachte mein ehrlichstes Lachen.

Und auf einmal sah ich ihn. Den jungen Mann, der ich war. Ich sah Robin und nicht Lara.

Einen Robin, der für alles gewappnet war, egal wie hart es werden würde.

Einen Robin, der alle Gegenstimmen in den Wind schlagen würde.

Einen Robin, der nicht aufgeben würde.

Ich konnte mich sehen und erkannte mich. 

EbenbildWhere stories live. Discover now