Kapitel 1.2 - Wanted: Adonis

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„Ist Lyss noch nicht da?", fragte ich Monika.

Sie ging gerade in die Hocke, um eine neue Flasche unter dem Spülbecken herauszufischen, sodass man nur noch einen Teil ihres Afros hinter der Theke sehen konnte.

„Mr. Bean's" war eine Art Allrounder. Tagsüber Café, abends Bar und bis vor kurzem gab es im Keller auch einen Club, aber der Pächter hatte gekündigt. Entsprechend gut war das Café auch zu allen Tageszeiten besucht. Im vorderen Bereich direkt hinter der gläsernen Eingangstür waren einzelne Tische, an denen man an schönen Tagen von der Sonne angestrahlt wurde, während man seinen Kaffee trank. Man konnte nach draußen schauen, die Passanten beobachten, wie sie ihrem Alltag nachgingen, und gelegentlich im Leben der anderen versinken, während man sein eigenes vergaß.

Viele kamen auch hierher, um in einem der Sessel bei einem Kaffee ein Buch zu lesen. Eine der Wände war vollständig verdeckt von einem deckenhohen Bücherregal, aus dem sich jeder ein Buch nehmen oder ein eigenes hineinstellen konnte. „Mr. Bean's" war also zum Teil auch eine Bücherei, nur dass niemand Protokoll über die Bestände führte.

In der Mitte des Cafés standen zwei Billardtische und im hinteren Teil erstreckte sich L-förmig die Bar, an der sich abends normalerweise die Leute tummelten. Nur heute schien sich das ganze Geschehen auf die Billardtische und die Dartscheibe zu konzentrieren.

Bruno legte sich wie selbstverständlich unter meinen Barhocker, als ich die Leine daran befestigte. Abgesehen von ihm war ich allein an der Bar. Nur ganz am Rand, wo die hängenden Industrieleuchten nichts mehr ausrichten konnten, saß eine alte Frau im dumpf-schwarzbraunen Schatten. Regungslos starrte sie in ihre Teetasse, die Kapuze ihres Mantels wie eine Decke über den langen weißen Haaren. Der Dampf des Tees stieg fast kerzengerade auf. Ich konnte mich an keinen Abend erinnern, an dem sie nicht an ihrem Platz saß. Keiner kannte ihren Namen, aber da sie immer da war und sich kaum bewegte, konnte man sie eigentlich schon zum Inventar zählen.

„Nein, keine Ahnung wo er ist."

Ich fuhr herum. „Was, wer?"

Monika zog die Augenbrauen hoch, während sie den Deckel der Flasche abschraubte. „...Lyss."

Ich schloss für einen Moment die Augen und nickte. Dann atmete ich hörbar aus.

„Alles okay bei dir?" Sie warf sich das Geschirrtuch über die Schulter und legte den Kopf schief. „Willst du auf ihn warten?"

Ich starrte auf die hölzerne Oberfläche der Theke und erinnerte mich daran, wie ich noch vor ein paar Tagen mit Finn hier gesessen und über belanglose Dinge wie Filme diskutiert hatte. Er stand auf Romantik-Komödien, was ich absolut nicht verstehen konnte. Ich war eher auf der Horror/Thriller-Seite. Nach einer langen Diskussion hatte er meine Hand genommen und mir gesagt, dass er mich genau dafür liebte, dass ich meinen eigenen Kopf hatte und mir von niemanden etwas einreden ließ. Er hatte mir gesagt, dass er mich liebte, verdammt! So eine Scheiße!

Ich presste die Lippen zusammen und hob den Blick. „Eigentlich will ich mich nur betrinken", sagte ich trocken.

Monika sah mich mit großen Augen an. „Okay..." Sie nahm ein Glas, hielt aber in ihrer Bewegung inne. „Willst du darüber reden?"

„Nein, nur trinken. Gib mir irgendwas Starkes. Egal was."

In ihren braunen Augen lag so viel Mitgefühl, dass ich zu all den anderen schlechten Gefühlen obendrauf noch ein schlechtes Gewissen bekam. Ganz langsam platzierte sie ein Glas vor mir, wohl in der Hoffnung, ich würde doch zuerst mit ihr reden wollen.

Wollte ich aber nicht. Ich wollte gar nichts. Das einzige, das ich in dem Moment wollte war, dass alles einfach aufhörte. Ich wollte den Pause-Knopf drücken — oder besser noch: Reset — und am liebsten alles vergessen. Zumindest für einen Abend. Ich leerte das Glas in einem Zug. Und dann noch eins. Und noch eins. Irgendwann hörte ich auf zu zählen, aber es mussten einige gewesen sein, denn Monikas Blick wurde immer besorgter.

Mit jedem Glas füllte ich meinen Körper noch einen Schluck mehr mit wohliger Wärme und ließ mich völlig treiben im Strudel der Ekstase. Die Stimmen um mich herum waren dumpf, das Lachen der Menschen herzlich und mein Kopf bewegte sich wie von allein im Rhythmus der Musik. Allmählich kam mir die Atmosphäre gar nicht mehr so trist vor. Im Gegenteil. Ich sah mich um und die schwankenden Gestalten, deren Körper in allen Farben verschwammen, strahlten vor Ausgelassenheit. Es war ein warmgelber Tanz mit dem Leben, der mich so verlockend anlachte, dass ich gar nicht anders konnte als aufzustehen und mich dem hinzugeben. Die Euphorie pulsierte in jeder Zelle meines Körpers, als ich tanzte, wie ich noch nie zuvor getanzt hatte. Es hatte sich so viel Energie in mir angestaut, so viel Wut und Enttäuschung, von der ich mich mit jedem Auf- und Abspringen, jeder Hüftbewegung ein bisschen mehr freimachte. Ich atmete, ich lachte, ich streckte die Arme in die Luft und fühlte mich so lebendig.

Dann schob mich plötzlich jemand zurück Richtung Tresen.

***

„Mr. Bean's" wäre echt mein Traumcafé mit der integrierten Bücherwand... Wem geht's auch so? :D
Updates gibt es jetzt voraussichtlich jedes Wochenende :)

Wanted: AdonisWhere stories live. Discover now