0 3 | s c h u t t u n d a s c h e

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s o p h i e

ICH FÜHLTE MICH furchtbar fehl am Platz. Obwohl ich kein unsicherer Mensch war, war mein Blick auf mein Handydisplay gerichtet, um die Nachricht von Tallulah nicht zu verpassen. Sie hatte das Restaurant ausgesucht und ich hatte, ohne zu überlegen zugesagt – vermutlich, weil ich so euphorisch gewesen war, dass sie sich überhaupt mit mir treffen wollte.

Doch jetzt, wo ich allein an einem der Tische saß, die in einem offenen, nur schwach beleuchteten Raum mit schwarzen Wänden, Fliesen und Decken saß, umgeben von zahlreichen Männern und Frauen in Anzügen, Cocktailkleidern und teuren Schuhen, musste ich das Bedürfnis unterdrücken auf meinem Daumennagel herumzukauen. Ich hatte meine schwarzen Doc Martens gut unter der Tischdecke versteckt, nachdem ich einige Blicke erhalten hatte, als die Kellnerin mich an den reservierten Tisch geführt hatte. Immerhin war mein enganliegender schwarzer Rollkragenpullover kein tief ausgeschnittenes Kleid, das mir vermutlich ein noch abwertenderes Kopfschütteln von dem mittelalten Mann am Tisch neben mir eingeheimst hätte.

Als mein Bildschirm dunkel blieb, fragte ich mich eine Sekunde lang, ob Tallulah mich vielleicht vergessen hatte. Vielleicht etwas abwegig, aber wenn ich es mir recht überlegte, war sie eine beschäftigte Frau. Als Kunstagentin und Ausstellungsorganisatorin, die schon renommierte Künstler und Künstlerinnen in ganz Europa unter ihre Fittiche genommen hatte, war es eine Ehre, auch nur eine Mail von ihr erhalten zu haben. Eine Einladung zu einem Abendessen – ich war beinahe in Ohnmacht gefallen, als ich die Nachricht in meinem Postfach entdeckt hatte. Marie hatte sie mir dreimal vorlesen müssen, bis ich sicher war, dass Tallulah nicht die falsche Adresse erwischt und nur aus Versehen mich kontaktiert hatte.

Aber nun, wo ich irgendwo in München in einem Upper-Class-Restaurant saß und sie schon dreißig Minuten zu spät war, ohne sich bei mir gemeldet zu haben, fühlte der Knoten in meiner Magengegend sich verdächtig nach Enttäuschung an.

Ich nahm mir bereits vor, die Kellnerin nach der Rechnung für mein Glas Wein zu fragen, das ich bereits zur Hälfte geleert hatte und mir dann ein Taxi zu nehmen, das mich in mein Hotel zurückbringen würde. Dort würde ich den Luxus von flauschigen Bademänteln in vollen Zügen ausnutzen, die ganze Nacht lang Teleshopping laufen lassen und mich in Selbstmitleid ertränken. Ein guter Plan B.

Mit zusammengebissenen Zähnen wollte ich nach meiner Handtasche greifen, um mein Portemonnaie herauszuziehen, als sich meinem Blickfeld Sneakers näherten. Aus Reflex folgten meine Augen die dunklen, vermutlich maßgeschneiderten Anzughosen über die langen Beine hinauf, bis über seinen Torso, breite Schultern, die in einem weißen Langarmshirt steckten – und ein Gesicht, das ich nur noch in meinen Träumen sah. Oder auf Shampooflaschen.

Alles in mir erstarrte. Ich fragte mich, ob es möglich war, in meinem Alter einen stressinduzierten Schlaganfall zu bekommen, denn genauso fühlte es sich an, als Robin sich meinem Tisch näherte, ohne mich bisher entdeckt zu haben. Er schlängelte sich zwischen den Tischreihen hindurch, den Kopf in Richtung Boden geneigt, das dunkelblonde Haar in seiner Stirn, als er sich immer weiter näherte.

Mein Verstand schrie danach, einen Fluchtweg zu finden, selbst wenn ich mich dafür auf den Schoß meines Tischnachbarn werfen musste, der mir immer noch merkwürdige Blicke zuwarf. Doch der letzte, rational denkende Teil meines Gehirns sagte mir bereits, dass es dafür schon zu spät war.

Denn während Robin die Distanz, die noch zwischen uns lag mit überraschend schnellen Schritten überbrückte, wanderten seine Augen in Richtung meines Tischs. Sie blieben an etwas hängen, und als ich seinem Blick eilig folgte, erkannte ich, dass es meine Doc Martens waren, die unter der weißen Tischdecke hervorlugten.

Seine Augen zuckten von den Spitzen meiner Schuhe hinauf zu mir. Ich war mir sicher, dass meine Lunge in diesem Moment ihren Dienst verweigerte. Kein Sauerstoff schaffte es in Richtung meines Hirns, als Robins Blick das erste Mal nach über einem halben Jahr auf mich fiel. Wenn ich darüber nachdachte, dann waren sechs Monate vielleicht nicht die Welt – aber ohne ihn hatten sie sich angefühlt wie eine Ewigkeit.

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