𝕶𝖆𝖕𝖎𝖙𝖊𝖑 𝟑

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Ich habe vor lauter Wolkenkratzer die letzten Jahre total vergessen, wie schön die Natur ist. Die Landschaften in Italien sind atemberaubend. Man hat mir oft berichtet wie ästhetisch die Toskana ist, doch das war noch untertrieben. Die Luft, die Wärme, die Weinplantagen - es ist alles perfekt. Wie eine Parallelwelt zu der Welt, in der ich eigentlich lebe.

Wir fahren einen schmalen Weg entlang und kommen an einem Tor an. Dieses ist mit Steinen geschmückt und wirkt nicht wirklich einladend. In einem großen Hof mit Pool, erkenne ich die kleine Sandstein-Villa. Das sieht doch schon mal gut aus. Draußen sehe ich Kinder spielen. Das sind bestimmt Lydias Nichten und Neffen. Ich steige aus dem Auto aus und blicke in die Ferne. Also die alte Scheune meiner Eltern hätte das niemals übertrumpfen können. Jetzt verstehe ich wieso Lydia hier heiraten möchte und habe dafür komplettes Verständnis.

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Heute ist meine Mutter wieder länger arbeiten, weshalb Robert auf mich aufpassen soll. Dass er aber nicht zuhause ist, das weiß sie natürlich nicht – mich stört es umso weniger, denn so habe ich das Haus für mich. Dass meine Mutter nichts davon weiß, versteht sich von selbst. Vor allem liebe ich es am Wochenende spät aufzustehen und zur Mittagszeit erst meine Cornflakes zu essen. Keine Mutter, die einem auf den Senkel geht. Während ich in der Küche sitze und den Rest der Milch aus der Schale schlürfe, höre ich wie sich die Kühlschranktür öffnet. Robert? Ich dachte er wäre noch weg? „Schon da?", frage ich quer durch den Raum. Die Tür schließt sich. „Bin nie weg gewesen." Ich verschlucke mich, da ich absolut keine Ahnung habe, wessen Stimme das ist.

„Hi, ich bin David." Die Verwirrung steht mir im Gesicht geschrieben - er merkt das. „Dein Milchbärtchen steht dir, vielleicht sollte ich mir auch eins wachsen lassen." Schnell wische ich mir die Milch von der Oberlippe weg. Immer noch kriege ich kein Wort aus dem Mund. Robert spaziert entspannt in die Küche, mit seinem Basketball unter dem Arm und geht an den Kühlschrank, um sich die letzten Schlücke Orangensaft zu gönnen, die ich ihm übriggelassen habe. Verdammt ist das gerade peinlich. „Ach das pubertierende Monster ist auch schon wach!", begrüßt mich mein Bruder. Ich äffe seine Worte nach. „Ich heiße Aria, ich entschuldige mich für den Neandertaler, den ich als Bruder habe", versuche ich die Situation zu retten, ohne dass es noch unangenehmer wird. Sie verabschieden sich und verlassen das Haus.

David also. Puh...ist er heiß.

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Im Haus angekommen und zehn Umarmungen später, schließe ich mich kurz im Bad ein. Ich hatte total vergessen, wie verdammt unsozial ich bin, sobald meine Familie um mich herum ist. Als würde sich die extrovertierte Aria verabschieden und dann erst auftauchen, sobald ich meine Verwandten nicht mehr vor Augen habe. Ich atme tief aus und mache mich frisch.

Lorence und ich ziehen uns schnell etwas Neues über und gehen dann runter in den Garten zu den anderen. Alle wirken sehr fröhlich und es wird an keinem Witz gespart. „Du könntest wenigstens so tun, als ob du dich freust, hier zu sein", die tiefe Stimme zerreißt mich aus meinen Gedanken. Das Lächeln meines Bruders steckt mich an. Wir umarmen uns. „Ich freue mich dich zu sehen. Du wirkst ziemlich gelassen, dafür dass du in paar Tagen heiraten wirst..." ziehe ich ihn auf. Er zuckt mit den Schultern. „Ich bin einfach nur froh, wenn es rum ist, sonst lande ich noch im italienischen Gefängnis, weil ich einen meiner Schwager umgebracht habe." Er sagt das so trocken, dass ich ihm kurz geglaubt habe. Tja so ist das, wenn die Hochzeitsgäste typische Vorstadt-Menschen sind.

In der Ecke entdecke ich jemanden Sekt ausschenken, das ist wohl das Licht am anderen Ende des Tunnels. Während sich Lorence mit den anderen Gästen amüsiert, stehe ich in der Ecke und kippe schon das zweite Glas runter. Neben mir steht nun Celeste. Mit ihr kann man sich immer über alles unterhalten und sie ist in keiner Weise aufdringlich, sondern einfach eine angenehme Gesprächspartnerin. Nicht jemand, der dir dein Ohr abkaut wie meine Mutter. Moment mal, wo ist sie eigentlich? Ich habe sie heute noch nicht gesehen, weder bei der Ankunft, noch jetzt beim Empfang.

Ich bewege mich rasch zu meinem Bruder, damit keiner auf die Idee kommt, bei mir das Gespräch zu suchen. „Sag mal, wo ist unsere Mutter?", frage ich ihn leicht besorgt. Ich habe nämlich fest mit ihr gerechnet und ich muss ehrlich sein, mich plagt gerade mein schlechtes Gewissen, weil mir nach drei Stunden auffällt, dass ich meine Mutter vergessen habe. „Sie hat Migräne und hat sich vor einiger Zeit hingelegt", beruhigt mich mein Bruder.

Auf der anderen Seite des Pools entdecke ich Lorence bei den Kindern, er spielt Fußball mit ihnen. Ich sehe, wie er aufgeht. Er wollte schon immer Vater werden, aber ich kann und will ihm diesen Wunsch nicht erfüllen. Das Kind hätte es nicht gut bei mir, ich wäre eine schlechte Mutter. Er sieht mich und winkt mir zu, daraufhin schicke ich ihm einen Luftkuss und mache mich auf dem Weg in das Haus.

Im Obergeschoss angekommen, klopfe ich an einigen Türen, bis ich die richtige erwische. Das leise „herein", von meiner Mutter habe ich sofort erkannt. Vorsichtig öffne ich die Tür und schleiche mich so geräuschlos wie möglich ins Zimmer. An der Bettkante angekommen, lege ich mich zu meiner Mutter ins Bett. „Hallo alte Frau, ich habe gehört, dass es dir nicht sonderlich gut geht? Ich dachte die Migräne ist besser geworden?", frage ich sie leise. „Seit Mai tritt diese vermehrt auf, aber mit den Medikamenten ist es um einiges besser geworden", teilt sie sich mit. Ich drücke sie fest an mich. Ein paar Minuten später schläft sie, also schleiche ich mich wieder raus, um mir den Rest des Sekts zu holen, welcher auf mich wartet. Im Flur ist es sehr dunkel, da hier in Italien abends schon ziemlich früh die Sonne untergeht. Da ich keine Ahnung habe wo die Lichtschalter sind und mein Handy in irgendeinem Zimmer lädt, versuche ich wie ein Maulwurf heil nach unten zu kommen.

Als ich die Treppe entdecke und runterlaufe, erkenne ich einen Schatten auf der rechten Seite des Flügels. Ich spähe leicht in die Richtung, um zu sehen wer dort steht. Es ist ein Mann, diesen erkenne ich aber nicht, da er mir den Rücken zukehrt. Da ich nicht weiß wer das ist, versuche ich wieder die Schleich-Aktion, damit ich unbemerkt das Haus verlasse. Doch grade als ich unten ankomme, knickt mein linker Fuß ein und aus mir kommt ein leichtes Stöhnen. Verdammt nochmal.

„Mensch Milchbärtchen, groß bist du geworden!"

Ich warte auf dichWhere stories live. Discover now