12 | Das mit dem guten Porzellan

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Obwohl ich sie seit mindestens dreizehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, wusste ich sofort, wer dort saß und missbilligend durch die Küche schaute, als wäre all das unter ihrer Würde und als hätte sie nur höchst ungern auf dem altmodischen – und in die Jahre gekommenen - Stuhl Platz genommen. Ich hatte ihre jährlichen Glückwunschkarten immer schnell weggeschmissen. Abgesehen vom Inhalt, denn wer konnte 50 Euro extra nicht gebrauchen? Den Brief, den sie mir zu meinem 18. Geburtstag geschickt hatte, hatte ich noch nicht einmal geöffnet. Er musste irgendwo in meinem Zimmer liegen.

„Katara. Groß bist du geworden.", bemerkte sie mit blecherner Stimme, nur wenig interessiert. Wenn das nicht der wahrscheinlich abgedroschenste Satz der abgedroschenen Sätze war. Groß bist du geworden. Kleiner wäre ja auch merkwürdig gewesen. Ich hörte zwar, was sie sagte, aber brachte immer noch kein Wort heraus. Zu geschockt war ich, sie hier zu sehen. Sie hatte anscheinend auch nicht viel zu sagen. Wenn sie Paul und Mom seit ihrer Ankunft so angeschwiegen hatte, wie sie es jetzt mit mir tat, hätte es mich jedenfalls nicht gewundert.

Zögernd setzte ich mich neben meinen Bruder und ließ die Frau dabei keine Sekunde aus den Augen. Auf Anhieb konnte ich keinerlei Ähnlichkeit mit meinem Vater feststellen. Er war wohl eher nach seinem Vater geschlagen. Paul griff unter dem Tisch nach meiner Hand und drückte sie. Mom trat mit der fertigen Kanne Tee zu uns und ich merkte, dass ihre Hand zitterte. Sie hatte das gute Porzellan aus dem Wohnzimmer geholt, das sonst nur an Weihnachten und zu wirklich besonderen Anlässen herausgeholt wurde. Sie schenkte ihrer Schwiegermutter ein und ehe sie den Tee über den ganzen Tisch verschüttete, nahm ich ihr die Kanne ab und verteilte den Tee auf die letzten drei Tassen.

„Normalerweise bevorzuge ich zum Tee immer etwas Gebäck, aber das wäre wohl zu viel verlangt.", sagte die Queen ... äh ... das Schwiegermonster und nippte vorsichtig (und mit erhobenem kleinen Finger!!!) an der heißen Flüssigkeit. Der unterschwellige Vorwurf hinterließ einen bitteren Beigeschmack. Ich biss mir auf die Zunge und schmeckte Blut.

Keiner von uns sagte ein Wort und ein paar Minuten hörte man lediglich das Ticken der Küchenuhr. Ich trank meinen Tee viel zu schnell, einfach, damit meine Hände etwas zu tun hatten. Meine Zunge brannte höllisch.

Offenbar wurde ihr klar, dass niemand den ersten Schritt wagte, denn sie räusperte sich vernehmlich und streckte das Kinn vor. Wie ein Kind, das unbedingt seinen Willen durchsetzen wollte.

„Ich habe mein Haus verkauft und ziehe bei euch ein.", sagte sie ohne große Vorrede.

Ich starrte die Frau mit den schlohweißen Haaren begriffsstutzig an. Was hatte sie da gerade gesagt? Paul blinzelte ungläubig und verschluckte sich prompt. Seine Augen tränten. Meine Arme überzogen sich mit Gänsehaut.

„Der Umzugswagen wird in den nächsten Tagen eintreffen. Bis mein Zimmer hergerichtet ist, werde ich in einem der Kinderzimmer unterkommen.", eröffnete sie uns ihren Plan. Wie selbstverständlich sie das alles herunterratterte, machte Paul und mich sprachlos. Hatte Mom denn überhaupt nichts dazu zu sagen?

Dann musste ich niesen. Der Rosenduft war wirklich nicht auszuhalten.

„Eure Oma wird für ein paar Wochen hier unterkommen. Nur übergangsweise - bis sie eine Wohnung in der Stadt gefunden hat.", bestätigte Mom meine schlimmsten Befürchtungen, rieb sich dabei den Nasenrücken und schloss die Augen, als würde ihr der Gedanke selbst nicht behagen. Oder vielleicht hatte sie auch wieder einen ihrer Migräneanfälle. Wenn ich so darüber nachdachte, bahnten sich auch bei mir drückende Kopfschmerzen an.

„Ihr könnt mich Grand-mère oder Großmutter Adelaide nennen."

Ach du scheiße. Ich wusste nicht, ob ich darüber lachen oder weinen sollte. Paul sah mindestens genauso geschockt aus wie ich. Wäre er nicht immer noch auf die Krücken angewiesen, die leider außer Reichweite am Kühlschrank lehnten, wäre er wahrscheinlich genauso wutentbrannt aus dem Zimmer gesprintet, wie ich es nur zu gerne vorgemacht hätte. Mom hatte sich wohlweislich mit ihrem Stuhl so gedreht, dass weder Paul noch ich so schnell an ihr vorbeikamen - wenn wir wirklich so töricht gewesen wären, einen Fluchtversuch zu starten.

Immerhin wusste ich jetzt, woher die ausgefallenen Namen in unserer Familie kamen. Das Übel aller höllischen Ausgeburten saß in Persona vor uns und lächelte wie die Queen erhaben in die unsichtbaren Kameras.

„Es ist ja nur vorübergehend.", krächzte Mom und versuchte vergeblich die Wogen zu glätten. „In ein paar Tagen sind die Möbel hier und eure Oma wird sich eine Wohnung suchen."

„Ganz recht.", sagte sie, doch ich hörte an ihrer Stimme, dass es ihr nicht passte „Oma" genannt zu werden. Wenn ich mir sie näher ansah, war ihr die ordinäre Bezeichnung wahrscheinlich nicht vornehm genug. Immerhin wollte sie lieber Grand-mère genannt werden. Soweit ich wusste, hatten wir nicht einmal französische Verwandtschaft.

„Warum hast du dein Haus verkauft?" Paul fand seine Stimme als erster wieder.

„Jeder Mensch muss einmal in seinem Leben umplanen. Es war an der Zeit, das Alte hinter mir zu lassen, und etwas Neues anzugehen.", meinte sie vage und ich runzelte die Stirn.

„So ein Quatsch!", entfuhr es Mom mit einem Mal scharf. Ein Tonfall, den sie nur dann anschlug, wenn man sie wirklich auf die Palme brachte. Es schien so, als war ihr Geduldsfaden in Anwesenheit ihrer Schwiegermutter um einiges kürzer als normalerweise. Aus heiterem Himmel hatte sie ein paar amtlich aussehender Papiere in den Händen.

„Hier steht, dass du deine Rechnungen nicht bezahlt hast und dass der Gerichtsvollzieher kommen musste!"

Sie schaute absichtlich in die andere Richtung. Überall hin, nur nicht in das Gesicht meiner Mutter.

„Früher wäre es nicht so einfach gewesen, einer alten Frau Hab und Gut zu nehmen.", polterte die Frau erstaunlich energisch zurück.

„Du hast deine Rechnungen nicht bezahlt! Was sollten sie sonst machen? Kühe melken?" Mom warf die Hände in die Luft und die Unterlagen auf den Tisch. So konnte ich auch endlich einen Blick darauf erhaschen. Oma – Pardon – Großmutter Adelaide betrachtete die Dokumente, die ihr das Zuhause genommen hatten, verächtlich.

„Und wo wird sie schlafen?"

Schuldbewusst presste Mom die Lippen aufeinander und sah mich flehend an. Mein Herz wurde schwer. Natürlich. Wenn ich genau darüber nachdachte, war es die einzige Möglichkeit. Paul hatte mit seinem Bein zu kämpfen. Er brauchte ein eigenes Bett. Wir konnten der Frau schließlich auch nicht vorschlagen, sie solle auf der Couch im Wohnzimmer schlafen. Ich war schon oft auf der Couch eingeschlafen, wenn wir einen unserer Filmeabende veranstaltet hatten, aber nach ein paar Stunden war ich immer wegen Rückenschmerzen aufgewacht. Irgendwann drückten sich die Federn unangenehm in den Rücken und machten jede Schlafposition unerträglich. Blieb also nur noch Moms oder mein Zimmer. Da in mein Bett (welches ich immerhin besaß, seit ich zehn war) eine Person gerade so hineinpasste, fiel die Wahl nicht schwer. Ich würde bei meiner Mutter einziehen. Mom lächelte verlegen.

„Es ist nur für ein paar Tage, bis das Gästezimmer hergerichtet ist. Mein Bett ist groß genug für uns beide. Sie wird sich eine Wohnung hier in der Stadt suchen. Es ist alles nur vorübergehend."

Es ist alles nur vorübergehend. Innerlich krampfte sich bei mir alles zusammen. Ich wollte mein Zimmer nicht hergeben, aber Widerspruch war zwecklos. Ich wollte meiner Mutter keine Szene machen. Sie hatte sich den Montagabend sicher auch anders vorgestellt. Wir (Paul, Mom und ich) waren unfreiwillig in diesen Schlamassel gerutscht. Nur wegen nicht bezahlter Rechnungen. Ich fragte mich, wie hoch ihre Schulden waren, aber ich behielt diese Frage vorsorglich für mich. Wer wusste schon, was ich damit losgetreten hätte.

Als ich später zu Mom ins Bett kroch und sie einen Arm um mich legte, wusste ich, dass ich das Richtige getan hatte.

„Danke, dass du so locker damit umgehst. Ich verspreche dir, es ist nur für kurze Zeit. Bis ihre Sachen im Gästezimmer untergebracht sind.", flüsterte Mom und gab mir eine Kuss auf die Wange. Ich seufzte. Locker sah anders aus, aber ich war froh, dass ich Mom damit wenigstens etwas von ihrem Stress genommen hatte. Ich fragte mich nur, wie lange das Schwiegermonster in Wirklichkeit bei uns wohnen würde. Nie wieder würde ich mich beschweren, wenn mir Paul auf die Nerven ging. Im Vergleich war Paul ein wahrer Engel – wenn auch manchmal mit einem B davor.

Katara - Bound To Trust (2)Where stories live. Discover now