Kapitel 1

57 10 4
                                    

Diese Geschichte ist anders. Diese Geschichte ist hart, unerbitterlich und kalt, so kalt, dass man hoffen muss, beim Lesen nicht zu erfrieren.
Dies ist die Geschichte vom silbernen Drachen.

Es ist ziemlich spät am Abend. Die Stadt scheint fast zu schlafen, aber nur beinahe. Im kleinen Krankenhaus am Ende brennen noch die Lichter. Und dort, in einem kleinen Raum liegt ein junges Mädchen im Bett. Ihre Arme sind mit zig Schläuchen verkabelt, damit ihr Herz nicht wieder versagt.
Stunden um Stunden sind vergangen, immer und immer weiter. Und immer noch sind die Zeichen auf Leben schlecht. Dies ist der Moment, in dem sie die Augen aufschlägt.
Stöhnt, und versucht, sich an den Kopf zu fassen, bis sie merkt, dass sie verkabelt ist.
Plötzlich kommt eine Krankenschwester hinein und sieht das Mädchen lächelnd an. "Ein paar Knochen sind gebrochen, aber Sie werden es überleben", sagt die Schwester aufmunternd. "Scheiße", ist die Antwort.
Falls die Schwester das gehört haben sollte, lässt sie es sich nicht anmerken. Einfach weiter lächeln und den Job machen.
"Kelly", steht auf dem kleinen Namensschild an ihrer Bluse. Daneben ein kleiner Smiley.
"Darf ich fragen, wie Sie es geschafft haben, sich erst so viele Knochen zu brechen und dann zu überleben?"
Müde schüttelt das Mädchen den Kopf. "Glauben Sie mir, letzteres war absolut nicht meine Absicht. Ich bin von einer Gruppe gesprungen, glauben Sie wirklich, das macht man aus Versehen? Ups, ich trete daneben und falle von der Brücke?"
Jetzt lächelt auch sie. Aber es ist ein gespaltenes, bitteres Lächeln.
Kelly geht nicht darauf ein. "Ein Junge namens Luis hat Sie unten am Fluss gerufen und den Notarzt gerufen."
"Kenn ich nicht", presst das Mädchen zwischen den Zähnen hervor, und genau diese Geste lässt etwas anderes vermuten.
Kellys Gesicht bleibt versucht fröhlich, obwohl man beim genauen Hinsehen ihr das Wort "unsicher" auf die Stirn geschrieben scheint.
"Ich soll dich mitnehmen", sagt sie schließlich. "Damit du dem Doc deine Geschichte erzählst."
"Ich will dem Doc keine Geschichte erzählen. Können Sie sich vorstellen, bei wie vielen Psychodocs ich schon war? Ich seh echt keinen Sinn dahinter, wenn ich mich jetzt bei noch einem ausheulen soll. Mal ganz davon agesehen, wenn ich eine besonders tolle Geschichte hätte, wäre ich wohl nicht hier, was?"
Jetzt wird die Schwester wirklich nervös. Das Mädchen, so jung es auch ist, strahlt eine unglaubliche Enschlossenheit aus. Aber es ist keine fröhliche.
Ihre blauen Augen funkeln dunkel. "Ärztliche Anweisung", murmelt Kelly mit der letzten Kraft, die ihr bleibt, und schiebt das Krankenbett einfach aus dem Zimmer.

Die Frau, die keine Geschichte hatteWhere stories live. Discover now