Teil 4

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,,Und er hat dich wirklich nicht angefasst?", fragte Jenny am nächsten Morgen zum ungefähr zehnten Mal. Selbst unsere Nageldesignerin schaute mich schon mitleidig an.

,,Nein", wiederholte ich.,,Jedenfalls nicht da, wo du es gerne hättest. Er ist ein Gentlemen."

Jenny schnaubte. ,,Nur Tarnung. Jungs wie Ethan und sein Bruder wissen, wie sie Mädchen rumbekommen. Und er weiß, dass er es bei dir besonders schwer hat." Mit ihrer fertig manikürten Hand tippte sie nebenbei auf ihrem Handy herum.

,,Wieso hat er es bei mir besonders schwer?" Ich wusste nicht, ob ich es als Beleidigung oderKompliment aufnehmen sollte.

,,Na, Jungfrauen sind immer schwer zu kriegen", antwortete sie und sah mich so breit grinsend an, dass ihr Grübchen auf der linken Seite sichtbar wurde. Genau wie Jenny, besaß auch Lou welche, allerdings gleich auf beiden Wangenseiten.

Hätte ich die Gewohnheit ständig rot zu werden, über die Jahre nicht längst irgendwie ablegen können, wäre ich jetzt knallrot geworden angesichts der Tatsache, dass nun der gesamte Nagelsalon über meine Jungfräulichkeit Bescheid wusste.

,,Wenigstens bin ich mir sicher, dass ich weder Aids noch Syphilis habe. Ein Flex, den sich 90% unserer Schule nicht leisten kann. Außerdem weiß er gar nicht, dass ich Jungfrau bin", sagte ich, nun etwas leiser.

Diana, meine Nageldesignerin, die gerade die Pfeile beiseite legte und mir sanft meine perfekt manikürten Hände tätschelte, zwitscherte: ,,Liebes, spar dich gut auf. Wenn du so alt bist wie ich, sind die meisten so ausgeleiert, dass Mann nur noch durchrutscht."

Lächelnd sah ich sie an, stumm dankend für den Versuch mich aufzumuntern. Dabei störte es mich eigentlich nicht, dass ich noch nie mit einem Jungen geschlafen hatte. Es knackste auch nicht an meinem Ego, denn ich wusste, dass ich mehr als einmal die Chance dazu gehabt hätte, es zu tun.

,,Wieso wollte Lou heute eigentlich nicht mit?", wechselte ich gekonnt das Thema. Jenny ging direkt auf ein und rollte ihre hellblauen Augen.

Während wir unsere Kreditkarten zückten, um zu bezahlen, erzählte sie: ,,Sie hatte natürlich was Besseres vor. Angeblich wollte sie lernen. Aber wir beide wissen, dass sie fast genauso ein Streber-Genie ist wie du und sich niemals mittem an einem sonnigen Tag hinsetzen würde, um Chemie zu büffeln."

Auch wenn ich nicht die Lüge aus Lous Plänen heraushören konnte, widersprach ich Jenny nicht. Sie hatte ohnehin ihren eigenen Kopf.

Wir verließen das Nagelstudio, nachdem wir Trinkgeld verteilt hatten und direkt schien uns die warme Juni-Sonne ins Gesicht. Ich kramte meine Chanel-Sonnebrille aus meiner Handtasche und setzte sie auf die Nase, während Jenny eine Zigarette rauskramte.

Mit erhobenen Augenbrauenschaute ich sie an.

Sie zuckte mit den Schultern. ,,Was? Eine Stunde in einem Nagelstudio zu hocken ist stressig. Außerdem nervt Nina mich." Sie hielt mir eine Nachricht des Kindermädchens ihrer kleinen Schwester unter die Nase.

Musste leider nachhause gehen. Notfall. Elli muss um 16 Uhr abgeholt werden. Sorry! Grüße Nina

Ich blickte auf meine Armbanduhr. Es war 15.50 Uhr.

Ich lachte. ,,Fünf Kilometer auf diesen Pumps zu rennen gestaltet sich wohl schwer."

Während sie versuchte Lou anzurufen, checkte ich meine eigenen Nachrichten. Neben Candice, hatte mir Ethan geschrieben.
Bock vorbeizukommen? Es gibt Popcorn! 😉

Ich lächelte in mich hinein, steckte aber erstmal das Handy weg als ich hörte, wie Jenny frustiert aufatmete. Ihre Kippe war schon zur Hälfte weggeascht.

,,Natürlich geht sie nicht ran. Sorry Jane, ich muss das Shoppen verschieben. Wenn ich Elli nicht abhole, dann petzen die Schlampen von ihrer Kita das meinen Eltern und mit denen ist gerade nicht zu scherzen."

Ich nickte. ,,Klar. Geh nur."

Sie verabschiedete sich von mir und ging in die andere Richtung, als ich - kaum bin ich ein paar Schritte gegangen - ein hellblonden Haarschopf entdeckte. Von hinten sah sie haargenau aus wie ihre Schwester, doch angesichts der Tatsache, dass sich Jenny vor zehn Sekunden bei mir verabschiedetet hatte, erkannte ich Lou sofort. Jedoch überraschte es mich nicht, dass ich sie sah, sondern mit wem ich sie sah.

Obwohl sich die Sonne gerade hinter einer leichten Wolke versteckte, setzte ich mir meine schwarze Sonnenbrille wieder auf die Nase. Ich war nicht weit entfernt von Lou, doch da ich auf der anderen Straßenseite stand und sie mit dem Rücken zu mir gedreht war, konnte sie mich nicht sehen.

Aufgrund meiner Überraschung kam ich gar nicht erst auf den Gedanken mich irgendwie zu verstecken, doch es war auch gar nicht nötig. Denn Lou schlang gerade ziemlich abgelenkt ihre Hände um einen einsneunzig-großen Jungen, der nichts als schwarz trug und zu allem Überfluss noch eine schulterlange, schwarze Haarpracht besaß. Gut, dass Jenny gerade nicht sehen konnte, wie er sich hinunterbeugte, um sie zu küssen, denn dann wäre sie sicherlich in Ohnmacht gefallen. So wie ich beinahe.

Ich war mir ziemlich sicher, dass dieser Typ eines dieser waren, die sich hinter dem Schulhof dicke Tüten bauten, Nadeln in die Adern jagten und/oder ihre Nasen mit Koks vergewaltigten. Was auch immer sie taten, sie waren nicht gerade die Elite der Schule. Eines der vielen Gründe, die ich spontan aufzählen konnte, warum das Bild, welches sich mir gab, absolut widersprüchlich aussah.

,,Na, schockiert?"

Fast hätte ich laut aufgeschrien als ich die Stimme hinter mir vernahm. Ich riss mich zusammen und straffte meine Schultern, ohne mich umzudrehen, denn mittlerweile erkannte ich ihn an seiner Stimme.

Kiaras Bruder bestätigte meine Vermutung, dass der Typ, der gerade an Lou rumsabberte, zu dem Abschaum unserer Schule gehörte.

Seine prüfenden Augen studierten mein Gesicht, doch ich wusste, dass er dort nichts fand. Ich war ziemlich gut darin, meine Gefühle nicht offen zur Schau zustellen.

Er wand sein Blick ab und schaute rüber zu den beiden. Mittlerweile unterhielten sie sich und obwohl ich Lous Gesicht nicht sah, hörte ich sie bis hierhin schallend lachen.

,,Bin überrascht, dass sie euch nichts erzählt hat, wo ihr euch doch von jedem Schiss erzählt." Ich erkannte die Ironie in seinen Worten. „Wobei: Eigentlich überrascht es mich doch nicht."

Plötzlich hob er seinen Arm und wenige Sekunden später wehte mir eine dichte Qualmwolke ins Gesicht. Ich unterdrückte ein Husten, auch wenn ich mich wohl glücklich schätzen konnte, dass er jetzt kein Gras neben mir rauchte. Andererseits müffelten meine Klamotten jetzt nach Rauch.

,,Ich würds sehr begrüßen, wenn du woanders deinen Lungenkrebs ernährst", sagte ich ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Er sagte nichts, ging aber auch nicht weg. Immerhin ließ er die Kippe fallen.

,,Sie ist netter als sonst. Das ist ja auch nicht schwer, wenn man bedenkt, dass der Standard bei euch nicht hoch gesetzt ist. Ich hoffe für sie, dass sie ihn nicht nur ausnutzt."

Ich konnte nicht anders als aufzulachen. ,,Ausnutzen? Weshalb sollte sie ihn denn ausnutzen, hm? Außer Geschlechtskrankheiten, Flöhe und Koks ist bei euch nicht so viel zu holen."

,,Wow", lachte Kiaras Bruder. Es klang gehässig. ,,Jetzt verstehe ich, warum sie euch nichts erzählt hat."

Dass das gesessen hatte, zeigte ich ihm natürlich nicht. Stattdessen schaute ich ihn das erste Mal so richtig an; seine Wunde über der Augenbraue war noch immer rot und total verkrustet und seine grünen Augen funkelten mich angriffslustig an.
,,Ist wohl nicht erwähnenswert. Sowas nennt man vorübergehende Geschmacksverirrung", gab ich wieder.

Ich setzte meine Sonnenbrille wieder ab, steckte mir meine AirPods in die Ohren und ging weg, ohne dass er noch was sagen oder Lou mich womöglich noch entdecken konnte.

Der Schock musste jetzterstmal verdaut werden.

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