P r o l o g

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,,Du fettes Schwein."

,,Stirb, bevor du Eier legst!"

„Passt auf, sonst überrollt es euch noch."

Sie hält sich die Ohren zu und verbirgt ihren hochroten Kopf in ihrem Schoss. Dabei ist sie alleine und keiner spricht zu ihr – außer die Stimmen ihrer Mitschüler in ihrem Kopf.

,,Schwabbeltitte", hatte ihr heimlicher Schwarm sie genannt. Und das war noch das Netteste, was er ihr heute Morgen in der Schule zugerufen hatte, im Einklang mit den anderen, wie in einem Chor.

,,Watschel nicht so schnell, Schweinchen", rief jemand anderes ihr zu. Sie wusste nicht wer, denn ihre Sicht wurde von ihren heißen Tränen verschleiert. Plötzlich fiel sie. Ein Bein hatte sich durch ihre geschlängelt und sie zur Fall gebracht.

,,Seht mal, alles gut – ihr Airbag hat sie aufgefangen."

Lachen. Gröhlen. Beleidigungen. Sie lag auf dem dreckigen Betonboden der Schule, das Gesicht nach unten und keiner half ihr. Obwohl um sie herum lauter Mitschüler standen, hatte sie sich noch nie so schrecklich allein gefühlt.

Nicht einmal jetzt, wo sie mitten in der Nacht auf dem kalten Boden ihres Badezimmers hockte und sich schluchzend hin und her wiegte. Denn sie hatte ja ihre noch halbvolle Packung voller Schlaftabletten neben sich liegen.

Sie hatte nie vorgehabt, sie alle zu nehmen. Gelegentlich nahm sie eine, um einschlafen zu können – hin und wieder fiel es ihr schwer, die Stimmen aus ihrem Kopf zu verdrängen, wenn sie schlafen wollte. Sie verfolgten sie in ihrem Schlaf und nicht selten wachte sie schweißgebadet auf. Manchmal (und das beschämte sie zutiefst) hatte sie sich sogar eingenässt.

Sie gab sich Mühe stark zu sein und es auszuhalten, denn sie wusste: Es gab Menschen, die es schwerer hatten. „Sei froh, dass du am Leben und gesund bist", würde ihre Mutter zu ihr sagen – vorausgesetzt, sie würde wissen, was in ihrem Leben abging. Aber sie wollte ihre Mutter nicht damit belasten. Und so behielt sie es für sich.

Als sie sich endlich aufraffte, stellte sie sich vor den riesigen Spiegel, dessen Anblick sie meistens mied. Sie sah, wie die unzähligen Tränen ihr Flecken ins Gesicht trieben und ihre Augen anschwellen ließ. Dass ihr Gesicht in dem Moment irgendwie älter aussah als es für ein 15-jähriges Mädchen der Fall sein sollte, merkte sie selbst. Sie betrachtete ihre speckigen Arme, ihre dicken Oberschenkel, ihre ,,Schwabbeltitten" und ihren „Airbag", den sie am meisten hasste. Doch so sehr sie sich an Sport und Diäten hielt – abends, wenn sie nach der Schule, dem Lernen, den Hausaufgaben in ihrem Bett saß, überkam sie der Heißhunger. Sie hasste sich dafür, doch es wurde nie besser.

Egal, was sie sich sagte, nichts wurde besser. Das wusste sie, doch erst jetzt konnte sie es sich eingestehen. Jetzt, wo sie sich das erste Mal seit Monaten richtig anschauen konnte, wusste sie, dass sie es nicht wert war. Sie begriff, was ihre Mitschüler schon längst wussten.

Sie packte sich zittrig an ihr Handgelenk und atmete tief durch. Plötzlich fühlte sie sich gut, weil sie wusste, dass sie nun etwas richtig machen würde. Mit einem traurigen Lächeln im Gesicht öffnet sie die Tabletten-Packung und auch, wenn ihre Hände zitterten, hielt sie den Blister mit Elan fest. Erst als sie genug Tabletten in ihrer Handfläche hielt, erlaubte sie sich die letzten Tränen.

Sie wusste, es würde ihr besser gehen, sobald sie die Tabletten genommen hatte.  Sie würde ein besseres Leben haben, sofern es eines nach dem Tod gab. Das wusste sie natürlich nicht, doch alles war besser als das, was sie jetzt führte. Sie hoffte darauf.

Mit zitternden Händen schluckte sie die Schlaftabletten und spülte mit eiskalten Wasser aus dem Wasserhahn nach. Als sie spürte, wie sie in ihrem Magen landete, fühlte sie sich frei. Nun würde sie nichts mehr tun müssen, außer sich wieder in ihr warmes Bett zu legen und zu warten. Ein Abschiedsbrief würde sie nicht hinterlassen, sie war kein Typ von Drama.

Du hast es geschafft, sagte eine Stimme in ihrem Kopf, die sie nicht zuordnen konnte. Sie war sanft und freundlich, wie die von ...

Plötzlich wurde sie müde. Ihre Lider flatterten und sie bemerkte, wie ein dichter Nebel sich um ihr Hirn schlang. Es war schön, nicht mehr nachdenken zu müssen.

Sie fühlte sich endlich frei.

SpacesWhere stories live. Discover now