{59} Belüge mich, pt. 1

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Wie bitte? Nein, alles in Ordnung. Macht euch keine Sorgen.

Ach, das macht mir nichts aus. Ich bin daran gewöhnt, den Weg nicht zu finden.


Was ich werden will? Haha, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Spielt doch keine Rolle, oder?





Leo lächelte. Vollkommen gleich, ob Sorgen oder Zweifel in den Augen seiner Gesprächspartner lagen, er begegnete ihnen stets mit Zuversicht.

Was sollte er auch tun?

Ihnen gestehen, dass er sich Tag für Tag den Kopf darüber zerbrach, was die Zukunft für ihn bereithielt, wenn Plan A nicht funktionierte? Seinen Eltern Vorwürfe machen, dass er als Taugenichts geboren worden war? Das hätte niemandem weitergeholfen. Also ging er den Weg des geringsten Widerstands. Immer. Er war zum perfekten Lügner geworden und hatte eine Fassade errichtet, die kaum ein Mensch durchdringen konnte.

Während Paula ›Broken Rainbow‹ interpretierte, lehnte er sich gelassen gegen das Rückenpolster seines Stuhls. Franna saß zu seiner Linken und tippte wild auf ihrem Smartphone herum, Kasimir hielt seinen Fokus auf den Flügel gerichtet. Beide konnten es nicht fassen, beide fühlten sie sich von ihm hintergangen. Es war gut so, ersparte ihm unnötige Diskussionen über einen Umstand, den er sich selbst nicht erklären konnte.

Der Anruf des Sekretärs hatte ihn am frühen Morgen erreicht, vier Stunden vor Beginn des Halbfinales.

»Dawid Eilinger ist aus privaten Gründen mit sofortiger Wirksamkeit vom Wettbewerb zurückgetreten.«

Was das für Leo bedeutete, war ihm relativ schnell klar gewesen. Er war Dritter in der Rangfolge der Kandidaten in Gruppe A - und Paula stand plötzlich ohne Konkurrenten da. Er kannte ihre Lieder auswendig, besonders ihren Siegertitel hatte er oft zuhause gespielt, da er seine Denkweise fast zu perfekt umschrieb.

›Belüge mich.‹

Es handelte sich um eine reine Formsache, für Dawid einzuspringen, ein Akt der Fairness gegenüber den anderen Kandidaten. Also hatte er seiner Nachnominierung zugestimmt, sich morgens halb sieben ans Klavier gesetzt, bis zur letzten Minute geübt und hoffte nun, vor Paula einen ernstzunehmenden Gegner inszenieren zu können. Immerhin beherrschte niemand den schönen Schein so gut wie er.

Während des letzten Abschnittes ihres Auftritts sah Leo wiederholt zu Kasimir, wenngleich ihm der Blickkontakt stur verweigert wurde. Kein Wunder, er hatte sein Versprechen gebrochen und ihn alleingelassen. Unwillkürlich musste er schmunzeln, obwohl es ihm einen Stich versetzte.

Kasimir hatte ihm nie etwas vorgemacht. Er ignorierte ihn, wenn er genervt war, oder senkte den Blick, wenn er nicht wusste, was er sagen sollte. Er fragte Leo nicht nach seinem Befinden, wollte keine Rückversicherung, dass es ihm gut ging oder dass er es schaffen würde. Kasimir glaubte schlichtweg daran, dass es so war, er musste sich keine Lügen von ihm auftischen lassen. Und selbst jetzt, obwohl er ihn offensichtlich mied, wusste Leo, dass er auf seiner Seite stand und seinen Sieg erhoffte. Wie oft würde er ihn noch enttäuschen müssen, bis er sich endlich dazu entschied, ihm nicht mehr zu verzeihen?

Als der letzte Akkord erklang, stand Leo auf und applaudierte Paula so enthusiastisch er konnte. Selbst nach einem großartigen Auftritt brachte sie es nicht fertig, öffentlich stolz auf ihre Leistung zu sein. Als sie verschämt den Blick senkte, musste er sich ein Grinsen verkneifen. Sie und Kasimir waren sich in gewisser Hinsicht sehr ähnlich. Beide verdienten es, im Finale zu stehen. Und er würde dafür sorgen, dass es auch dazu kam.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt