Kapitel 2

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Unsanft prügelt mich mein unglaublich lauter Wecker aus dem Schlaf. Es ist sechs Uhr morgens und mein Kopf dröhnt. Wie in Trance bewege ich mich mit halb geschlossenen Augen durch mein Zimmer und suche den Ausgang. Was mein Vorderkopf findet, ist eine Wand. Ich überlege kurz. Richtig, neues Haus. Neues Zimmer. Die Tür ist in der anderen Richtung. Schon etwas wacher betrete ich den Flur. Ich bemerke die geschlossene Tür zum Badezimmer. Meine Mutter scheint noch nicht wach zu sein. Ich nehme mir aus einem der Umzugskartons ein Handtuch und gehe kurz duschen. Als ich aus der Dusche komme, suche ich mir ein paar Klamotten aus dem Schrank. Eine schwarze Lederjacke und eine schwarze Jeans. Unter der Jacke ein schwarzes T-Shirt. Ich mag die Farbe schwarz. Denn auch wenn sie von manchen nur als die Abwesenheit aller Farben abgetan wird, finde ich sie faszinierend. Geheimnisvoll. Und da sie zu meinen Augen und meinen Haaren passt, trage ich sie gerne als Kleidung bei mir. Sobald ich fertig angezogen bin, betrete ich die Treppe nach unten. In der Küche erwartet mich meine Mutter, die inzwischen auch wach ist. Sie hat schon damit angefangen, Frühstück vorzubereiten. Es gibt den Klassiker, Rührei mit Bacon. Von Eiern wird mir eigentlich schlecht, jedoch esse ich sie trotzdem gerne. Nach dem Frühstück, das wie immer mit viel Schweigen verbracht wird, ist es 07:30 Uhr. Normalerweise würde ich mich jetzt auf den Weg zur Schule machen, jedoch habe ich hier noch etwas Zeit, da die Stadt klein und die Strecke zur Schule entsprechend kurz ist. Ich gehe noch mal rauf in mein Zimmer. Dann fällt mir ein, dass ich noch meinen Rucksack packen muss. Ich stecke mein Etui mit Zeichenmaterialien und meine Federtasche in den Rucksack. Hinzu kommt mein Laptop und ein paar Kontaktlinsen. Sie sind hellblau gefärbt und ich trage sie normalerweise in der Öffentlichkeit, um nicht für unnötige Aufmerksamkeit zu sorgen. Auch heute habe ich sie wieder eingelegt. Nur gestern habe ich den dummen Fehler gemacht, sie zu vergessen. Deswegen haben mich wohl alle angekuckt. Meine Augen sind nun mal schwer zu übersehen. Schließlich stecke ich noch mein Notizbuch ein. Eigentlich ist es eine Mischung aus Skizzenbuch und Tagebuch. Schulnotizen mache ich mir in dem simplen Collegeblock, den ich jetzt auch noch in meiner Tasche verstaue. Nachdem ich das erledigt habe, ist es auch schon 07:45 Uhr. Zeit loszugehen. Sobald ich mich knapp von meiner Mutter verabschiedet habe und sie mir viel Spaß mit meinem ersten Schultag gewünscht hat, öffne ich die Tür. Mein Fahrrad steht schon fertig vor dem Haus. Meine Mutter muss es gestern noch ausgeladen haben. Ich schwinge mich auf den Sattel und fahre mit nicht gerade geringer Geschwindigkeit die Straße hinunter in Richtung der Schule. Auf dem Schulweg sehe ich einige andere Jugendliche, die sich auf dem Weg zur Highschool meist in kleinen Gruppen zusammengetan haben. Nur eine Person sehe ich alleine. Ein Mädchen mit hüftlangem, goldblondem Haar. Sie dreht ihren Kopf, und als ich an ihr vorbeifahre, vergeht der Moment in Zeitlupe. Grüne Augen, die mir bekannt vorkommen. Doch alles in mir, jeder einzelne Instinkt schreit mich an: Gefahr. Doch sobald ich um eine Ecke gefahren bin, ist sie verschwunden und der Moment vorbei. Leicht verwirrt fahre ich weiter auf meiner Strecke zur neuen Schule.

Als das Schultor in Sicht kommt, bin ich weder beeindruckt noch überrascht. Die Schule ist im Grunde eine verkleinerte Ausgabe meiner alten Schule. Die typische amerikanische Highschool eben. Auch von ihr habe ich schon Bilder im Internet gesehen. Sie begeistert mich genau so doll wie erwartet. Also nicht. Als ich das Schultor erreiche, sehe ich wieder eine Menge Schüler, die in Gruppen beieinander stehen und reden. Ich stelle mein Fahrrad an einem der Fahrradständer ab und bewege mich auf den Haupteingang zu, der an meiner alten Schule wohl als kleinerer Nebeneingang durchgegangen wäre. Das ist wohl eines der wenigen Merkmale, die mir an der Schule gefallen. Sie ist klein. Das heißt kleinere Klassen. Und das wiederum heißt weniger Menschen. Doch als ich vor der Tür zum Klassenraum stehe und es läutet, weiß ich, dass ich hier jetzt durchmuss. Die Vorstellung vor der gesamten Klasse. Eine soziale Hinrichtung mit anschließender Obduktion. Bisher ein Desaster in jeder Klasse, in der ich war. Egal, sage ich mir. Augen zu und durch. Ich öffne die Tür und sehe ich mich um. Genau zwei Stühle sind noch frei. Viele neugierige Gesichter sehen mich an. Als der Lehrer mich entdeckt, lächelt er mich mit seinen freundlichem Gesicht an. »Hallo, Simon. Wir kennen uns ja schon.«, sagt er. Ich erinnere mich. Ich und meine Mutter hatten am Telefon mit ihm gesprochen. Mr. Hibberts war sein Name. »Magst du dich gleich der Klasse vorstellen? Dann können wir demnächst mit dem Unterricht anfangen.« So stelle ich mich also so kurz gefasst wie möglich vor, während mich eine Horde Geier anstarrt, die nur so vor Neugier platzt. Ich schließe mit dem typischen „Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit", ab und bekomme einen der beiden freien Sitzplätze zugewiesen. Er befindet sich von der Tür aus in der hinteren rechten Ecke des Klassenraumes, gleich neben einem Fenster. Der zweite freie Platz ist schräg links hinter meinem. Auf dem Weg zu meinem Platz höre ich, dass die Tür geöffnet wird. Doch keine Entschuldigung fürs Zuspätkommen, kein einziges Wort. Einfach nur leise Schritte, die man fast nicht hört. Als ich mich umdrehe, halte ich unwillkürlich die Luft an, denn was ich erblicke, sind zwei grüne Augen. Das Mädchen zwängt sich an mir, wie ich immer noch erstarrt im Gang zwischen den Tischen stehe, vorbei. Trotz meines Versuches, möglichst viel Abstand zu ihr zu nehmen, berühren sich im Vorbeigehen unsere Hände. Ich habe das Gefühl, einen Elektroschocker angefasst zu haben. Sie wirft mir einen kurzen, kühlen Blick zu, dann setzt sie sich hin. Verdammt. Denke ich. Ausgerechnet direkt hinter mir. Als ich das Gefühl habe, mich wieder sicher bewegen zu können, gehe ich langsam auf meinen Platz zu. Den Rest der ersten Stunde kann ich mich nur halb auf den Unterricht konzentrieren. Doch es ist sowieso ein Thema, das ich an meiner alten Schule schon dreimal durchgekaut und wieder ausgekotzt habe. Geschichte des Ersten Weltkriegs. Was mich unruhig macht, ist das Gefühl, von hinten mit Blicken durchbohrt zu werden. Entweder ist sie in mich verliebt oder sie will mich umbringen, scherze ich mit mir selbst. Und da ersteres unwahrscheinlich ist, beginne ich die Aura von Gefahr, die von ihr ausgeht, zu verstehen. Endlich werden wir nach der Doppelstunde in die erste Pause entlassen. Ich verlasse das Klassenzimmer. Als ich noch einmal zurückschaue, sehe ich das Mädchen mit den grünen Augen nicht mehr. Wann hat sie das Klassenzimmer verlassen? Ich sehe mich im Flur um. Keine Spur von ihr. Ich zucke innerlich mit den Schultern und nehme die Treppe nach unten auf den Schulhof. Wie schon auf dem Weg zur Schule haben sich auch hier fast alle Schüler zu einzelnen Gruppierungen zusammengetan. Doch einige stehen auch ohne Gesellschaft rum. Da sehe ich die beiden schon wieder zusammen. Der Junge mit den roten und das Mädchen mit den grünen Augen. Sie reden miteinander. Das müssen sie nicht leise tun, denn sie stehen weit ab von allen anderen. Und ich bin mir sicher, dass der Blick des Mädchens ständig in meine Richtung blitzt. Doch um die beiden werde ich mich später kümmern müssen, denn die Pausenglocke hat geläutet und klingelt die Schüler rein. In einem Strom, der auf Grund der geringen Schüleranzahl nicht allzu langsam voranzieht, bewegt sich die Masse durch die Flügeltüren zurück ins Schulgebäude. Und von einem Moment auf den anderen ziehen zwei grüne Augen verschwommen an mir vorbei. Ich sehe sie nur für einen Moment im Augenwinkel. Ich spüre einen einzigen kühlen Atemzug auf meiner Haut. Dann ist das ganze wieder vorbei. Doch wie vorhin schon nach einer einzigen Berührung mit diesem Mädchen muss ich stehen bleiben und schnappe nach Luft. Obwohl sie nur dicht an mir vorbeigegangen ist, hatte ich das verstörende Gefühl, dass sie direkt durch mich gegangen ist. Als ich mich wieder erholt habe und mich im Flur umsehe, bemerke ich, dass ich allein bin. Ich war wohl länger in Gedanken versunken als ich dachte. Ich setze meinen Weg durch das Schulgebäude fort. Sobald ich am Klassenzimmer angekommen bin, mache ich mich feierlich auf meine erste Standpauke für Zuspätkommen gefasst. Von denen wird es bei meiner ausgeprägten Gelassenheit noch so einige geben. Ein Wunder, dass ich heute Morgen überhaupt rechtzeitig zu meinem ersten Schultag war. Doch als ich das Klassenzimmer betrete und die Tür hinter mir schließe, scheint der Lehrer, laut Stundenplan ein gewisser Mr. Zhang, nichts gegen meine Verspätung zu haben. Oder er ist einfach nur zu vertieft in das Buch vor ihm, das eine Arbeit zur Ein-Kind-Politik in China zu sein scheint. Mr. Zhang ist ein für westliche Maße durchschnittlich großer Mann. Da er hier Chinesisch unterrichtet, eins der Hauptfächer an der neuen Schule, die sich dadurch von den anderen Schulen in der Umgebung abheben möchte, schätze ich, dass er Asiate ist. Und da er mir nicht wirklich viel Beachtung zu schenken scheint, halte ich Ausschau nach einem Platz im Klassenzimmer. Wieder nur einer frei. Ich setze mich, und schaue nach vorne. Revenge, denke ich, als ich das Mädchen mit den grünen Augen an ihren blonden Haaren vor mir sitzend erkenne. Ich studiere sie eingängig, doch mir fällt überhaupt nichts auf. Nichts von dieser Aura, die ich vorhin eindeutig gespürt habe. Sie sieht eigentlich aus wie ein ganz normales Mädchen. Doch plötzlich dreht sie sich zu mir um und schaut mir mit einer Energie, die mich zusammenzucken lässt, direkt in die Augen. Da ist sie wieder. Diese Gefährlichkeit, diese Dunkelheit. Sie durchbohrt mich mit einem warnenden Blick, der mich für den Rest der Stunde davon abhält, sie länger als es nötig wäre anzugucken. Die nächsten paar Stunden verlaufen unspektakulär. Das Mädchen sitzt immer einige Plätze entfernt von mir und wir tauschen keine Blicke mehr aus. Als ich nach der zweiten Pause in den nächsten Klassenraum wechsle, ist mal wieder nur ein Platz frei, was schon fast verdächtig häufig passiert. Ich muss wirklich an meiner Pünktlichkeit arbeiten. „Sorry, kann ich mir einen Stift von dir leihen?", kommt es unerwartet von links neben mir, nachdem ich mich hingesetzt habe. Das ist seit mehr als zwei Stunden meine erste richtige Konversation, abgesehen von vereinzelten Antworten auf die Fragen eines Lehrers. Ich fange mich und mustere den Jungen, der die Frage gestellt hat. Er hat asiatische Züge und moderat kurz gehaltenes, nach hinten gegeltes Haar. Erwartungsvoll sieht er mich an. „Natürlich.", antworte ich, ziehe einen eleganten schwarzen Fineliner aus meiner Federtasche und reiche ihn dem Jungen. „Zeichnest du?", fragt er. Das muss er anhand des restlichen Inhaltes meiner Federtasche erkannt haben. Ein Knetradiergummi, Bleistifte verschiedener Härten und schwarze Fineliner mehrerer Stärken. „Schon hin und wieder. Du auch, wie ich sehe?", frage ich mit einem Blick auf seine Federtasche, die ähnliche Materialien enthält. „Schon, hin und wieder.", antwortet er und grinst mich leicht an. Er muss die absolut überfüllte Mappe, die aus meinem Rucksack guckt, gesehen haben. Nicht schlecht, er hat eine gute Auffassungsgabe. „Kann ich mir deine Zeichnungen in der Mittagspause mal ansehen?", holt er mich aus meinen Gedanken. „Klar.", antworte ich überrumpelt. Wollte ich das gerade wirklich sagen? Ich bin mir nicht sicher. Verwirrt darüber, merke ich gar nicht, dass wir den Rest der Stunde kein Wort mehr wechseln. Bis es zur Mittagspause klingelt.

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⏰ Last updated: Jul 28, 2021 ⏰

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