Kapitel 1

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Ich schaue aus dem Fenster des Autos, in dem wir über den stillen Highway fahren. Ich erblicke hohe Nadelbäume links und weite Felder rechts. Als ich durch das Heckfenster unseres Chevrolet-Oldtimers das letzte Mal mein altes Zuhause sah, war mir klar, dass ich es wohl nie wiedersehen würde. All meine Freunde musste ich hinter mir lassen. Und nun beginne ich ein neues Leben in einem neuen Kaff irgendwo in Nebraska. Mit meiner Mutter habe ich seit zwei Stunden kein Wort gewechselt. Als wir die Ortsgrenze passieren, bemerke ich ein morsches Schild aus Holz. Willkommen in Milford. Ein kurzes Stück der Straße ist von den Blättern niedrigstehender Bäume überdacht, dann öffnet sich der Waldabschnitt zu einem kleinen Ort. Ich sehe einige Häuser mit Veranda und Hollywood-Schaukeln. Wie kitschig. Als ich durch die abgedunkelte Scheibe auf meiner Seite des Autos blicke, sieht mich ein Paar smaragdgrüner Augen von der Veranda eines besonders ausladend gebauten Hauses an. Es vergeht nur ein Bruchteil einer Sekunde, bis das Mädchen, zu dem die Augen gehören, im Vorbeifahren hinter einer hochgewachsenen Hecke verschwindet. Ich könnte schwören, dass sie mir direkt in die Augen gesehen hat, denke ich. Aber wie kann das sein? Die Scheiben unseres Autos sind abgedunkelt. Sie kann mich nicht gesehen haben. Doch ich habe keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, denn wir fahren gerade die Einfahrt zur Garage unseres neuen Hauses hoch. »Wir sind da, Simon.«, sagt meine Mutter. Sie ist kein Freund von vielen Worten, daran hat sich auch mit einem neuen Wohnort nichts geändert. Ich steige aus dem Auto und sehe mein neues Zuhause an. Das Haus ist klein und sieht einladend aus. Als ich mich auf das zweistöckige Gebäude zubewege, spricht mich meine Mutter an. »Ich muss noch einmal zum Immobilienverwalter dieser Gegend, die Schlüssel abholen.« »Okay. Bis gleich.«, antworte ich und gehe weiter den kleinen Hügel herauf, auf dem das Haus steht. Ich betrete die Veranda und drehe mich um. Ich lasse meinen Blick schweifen und sehe vielleicht insgesamt 70 Häuser, einen Supermarkt und eine Tankstelle am Ortsrand. Außerdem erblicke ich einen Automechaniker und ein kleines Antikgeschäft. Mein Blick gleitet in Richtung der Häuser auf der anderen Straßenseite, und ich blicke in ein tiefrotes Augenpaar. Erschrocken mache ich einen Satz zurück. Verdammt, wieso beobachtet mich denn jeder hier?, denke ich und gucke zurück auf die andere Straßenseite. Der Junge starrt mich immer noch an. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Er steht auf der Veranda des genau gegenüberliegenden Hauses. Einen Moment später dreht er sich um und geht, ohne etwas Weiteres zu tun oder zu sagen, ins Haus zurück. Die Tür knallt, dann ist er weg. Ratlos sehe ich mich weiter um. Man, ist diese Stadt verschlafen. Echt langweilig. Ich überlege, mit was ich mich beschäftigen könnte, und entscheide mich für einen Rundgang um das Haus. Ich verlasse die Veranda, drehe mich um und gehe an der Seite des Hauses vorbei. Das Haus ist ein amerikanischer Klassiker. Es könnte aus den 60ern stammen. Ich erreiche die Rückseite des Hauses, und blicke über weite, leicht abschüssige Wiesen, die sich in einem Wald verlieren. Hier kann man bestimmt gut laufen gehen, denke ich mir. Ich nehme mir vor, meine Theorie in nächster Zeit einmal zu überprüfen. Ich drehe mich erneut um und sehe die Rückwand des Hauses. Oben ist ein rundes Dachfenster, welches wohl zu meinem Raum gehört, jedenfalls laut den Beschreibungen meiner Mutter. Das Haus hat auch hinten eine Veranda, welche ich nun betrete. Ich rüttle am Türgriff der Hintertür, nur um auch diese verschlossen vorzufinden. Also setze ich mich aus Langeweile auf die Treppe der Veranda, und blicke noch einmal über die weite Landschaft. Plötzlich meine ich, in der Ferne die Umrisse eines Mädchens im Kleid zu sehen. Da jedoch eine Nebelwolke aufzieht, erkenne ich nichts genaues, und im nächsten Moment ist der Schatten wieder verschwunden. Das war bestimmt nur eine Illusion. Der Wind frischt auf, und ich gehe zurück zur Front des Hauses. Dort erwartet mich auch schon meine Mutter mit dem Schlüssel. Sie guckt mich nur bedeutungsvoll an und bewegt sich auf die Haustür zu. Ich schaue erwartungsvoll zu, wie sie die den Schlüssel im Schloss umdreht und die Tür öffnet. Erst tritt sie ein, dann ich. Ich blicke in den Eingangsbereich. Vor mir gehen nach rechts und links zwei Durchgänge ohne Türen ab. Weiter geradeaus führt eine Treppe nach oben. Ich wende mich nach links und betrete die Küche. Sie ist groß und lichtdurchflutet, jedoch wirkt ohne Möbel alles etwas kahl. Gegenüber der Küche ist das Esszimmer. Es ist genauso lichtdurchflutet. Der Erbauer dieses Hauses hatte wohl eine Vorliebe für große Fenster. Meine Mutter hat sich zuerst den rechten Teil des Erdgeschosses angeschaut. Ich drehe mich um, verlasse das Esszimmer und treffe sie im Flur. »Gefällt es dir?«, fragt sie mich. »Bisher gut. Ich schau mir mal den Rest an.« Damit wende ich mich dem zweiten Durchgang zu. In diesem Abteil des Hauses liegt das Wohnzimmer und das eine Schlafzimmer. Nach den bisherigen Plänen das meiner Mutter. Es hat, wie alle anderen Räume, die ich bisher gesehen habe, große Fenster, die viel Licht hereinlassen. Ich betrete das Wohnzimmer. Seine wie erwartet großen Fenster zeigen die weiten Wiesen und die Grenze des Waldes. Etwa zwei Meilen weiter geradeaus, mitten auf dem Feld, steht ein großes Haus, schon fast ein Anwesen. Wer da wohl wohnt, frage ich mich im Stillen. Ich kehre zurück zum Eingangsbereich. Sobald ich die Treppe betrete, gibt die Stufe ein Geräusch von sich, das ich wohl eher von einem sterbenden Schwan erwartet hätte. Na toll, denke ich mir. Das wird wohl nichts mit nächtlichem Rausschleichen. Doch noch weiß ich ja überhaupt nicht, ob die anderen Teenager dieser Stadt auch so von nächtlichen Partys angezogen werden wie ich. Ich bewege mich weiter die Treppe hoch. Als ich das obere Ende erreiche, sehe ich, dass sich ein langer Flur durch das Obergeschoss zieht. Von den Grundrissen, die ich im Internet gesehen habe, weiß ich, dass mein Zimmer rechts liegt. Aber das hebe ich mir zum Schluss auf. Ich wende mich also nach Links. Dort finde ich zwei weitere Türen vor. Von einem Raum weiß ich, dass es das Gästezimmer ist. Der andere ist das Badezimmer. Ich öffne die Tür zum Badezimmer. Ich erwarte schon, auch hier große Fenster vorzufinden, doch hier hat sich der Architekt im Zaum gehalten. Es gibt nur ein simples Doppelfenster, welches aus Milchglas besteht. Sonst nichts weiter interessantes: Eine Badewannen-Dusch-Kombi, eine Toilette und ein Waschbecken mit einem großen Spiegel. Ich blicke mir selber in die Augen. Ich sehe abgedroschen aus, erschöpft vom Umzug. Meine schwarzen Haare fallen mir über ein Auge. Ich streiche sie mir aus der Stirn. Und dann fällt mir plötzlich auf, wieso mich hier alle so komisch angucken. Meine Augen haben eine eher außergewöhnliche Farbe: Sie sind komplett Schwarz. Jedoch kein normales Schwarz. Es ist das schwarz, was die Wissenschaft Vantablack nennt. Ein besonders dunkles Schwarz, welches so gut wie alles auf es treffendes Licht absorbiert. Ich, meine Freunde und meine Verwandten sind daran gewöhnt, jedoch wirkt es auf die meisten Fremden etwas merkwürdig. Durch meine Augenfarbe falle ich ziemlich auf, weswegen ich meistens eine Sonnenbrille oder farbige Kontaktlinsen trage. Doch heute habe ich ebendiese vergessen aufzusetzen beziehungsweise einzusetzen. Ich frage mich, wie ich das vergessen konnte. Muss wohl der Schlafmangel sein, denke ich. Ich löse meinen Blick von meinem Spiegelbild und verlasse den Raum. Ich schaue quer durch den Flur zu meiner Zimmertür. Der Moment der Wahrheit. Ich lege die kurze Strecke zurück und lasse meine Hand auf dem Türgriff ruhen. Dann öffne ich langsam die Tür und betrete mein neues Zimmer. Es entspricht ziemlich genau meinen Vorstellungen. Es hat nur ein einziges, rundes Gaubenfenster, dass von einem Baum im Vorgarten noch einmal gedimmt wird. Der Raum ist somit ziemlich dunkel. Ganz nach meinem Geschmack. Trotz der Dunkelheit ist der Raum ziemlich groß, was mir viel Platz für einen großen Schreibtisch unter meinem Fenster lassen wird. Mein Bett werde ich links von der Tür platzieren. Rechts kommt dann ein großer Eckschrank hin. Perfekt. Ich will den Raum gerade wieder verlassen und ins Erdgeschoss zurückkehren, als ich aus dem Fenster heraus einen Blick auf zwei rote Augen erhasche. Doch diesmal sind sie nicht auf mich gerichtet. Ich gehe näher ans Fenster, um besser sehen zu können. Da sehe ich, dass neben dem Jungen mit den roten Augen das Mädchen mit den grünen Augen steht. Sie scheint hastig auf ihn einzureden. Er reagiert gereizt – was sie sagt, scheint ihm nicht zu gefallen. Doch als sie noch einmal ansetzt, schaut er sie resigniert an, gibt eine kurze Antwort und nickt. »Simon! Kommst du runter?«, höre ich die Stimme meiner Mutter von unten. Als ich nach dieser Unterbrechung, bei der ich kurz über meine Schulter gekuckt habe, meinen Blick wieder auf die andere Straßenseite richte, sind das Mädchen und der Junge verschwunden. So nehme ich also den Weg aus meinem Zimmer heraus die Treppe hinunter. Dort erwartet mich meine Mutter, schon bepackt mit dem ersten Möbelstück. »Hilfst du mir, den Wagen auszuräumen?«, fragt sie und deutet mit einem Kopfnicken auf die offene Tür hinter ihr. »Klar.«, antworte ich knapp und schiebe mich an ihr vorbei raus auf die Veranda, von der aus ich die Straße betrete. Den Rest des Tages verbringen meine Mutter und ich mit dem Einrichten des Hauses. Als es dämmert und sich eine warme Sommernacht einstellt, haben wir das meiste schon ins Haus gebracht. Mein Schreibtisch, mein Bett und der Eckschrank stehen, auch die anderen Zimmer sind weitgehend eingerichtet. »So, Schluss für heute.«, sagt meine Mutter. »Ich mache Abendessen. Außerdem musst du ja morgen schon in die Schule.« Richtig, denke ich voller Spannung. Schule. Mal sehen ob ich hier ein paar Partybegeisterte auftreiben kann. Ich verabschiede mich für die halbe Stunde bis zum Essen nach oben in mein Zimmer. Ich möchte noch kurz mit Kayan schreiben, einem alten Freund. Ich steige die Treppen hinauf, gehe in mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Anschließend öffne ich meinen Laptop und den Chat mit Kayan. Eine neue Nachricht.

Hey Simon, wie geht's? Bist du gut angekommen? -Kayan

Ich schreibe zurück:

Ja, alles gut hier. Ich bin nur ziemlich fertig nach dem ganzen Möbelschleppen.
-Simon

Etwa 30 Sekunden später kommt die Antwort:

Und hast du schon jemanden aus der Gegend kennengelernt? -Kayan

Nein, nicht wirklich – aber meine Augen stiften mal wieder Unruhe. -Simon

Schon wieder? Was ist denn passiert? -Kayan

Da waren ein Junge und ein Mädchen, die haben mich angekuckt. Der Junge eher wütend, das Mädchen neugierig. -Simon

Uhhh, jetzt schon was am Laufen? Lol -Kayan

Meine Mutter ruft nach mir. Das Essen ist fertig.

Vergiss es! Ich muss jetzt off. Schreiben wir morgen? -Simon

Ja, machen wir. Bis morgen -Kayan

Ich schließe meinen Laptop und mache mich auf den Wegins Esszimmer. Es duftet nach Lasagne – ein Klassiker meiner Mutter. Das Essenverläuft weitgehend still, bis auf einen kleinen Austausch über die neueGegend. Meine Mutter erwähnt, dass die Schule am anderen Ende des kleinen Ortesliegt, was bei der Größe der Kleinstadt aber kein Problem darstellen sollte.Als wir mit dem Essen fertig sind, räume ich die Teller ab und stelle sie indie Spüle. Meine Mutter schlägt den Weg zum Badezimmer ein. Wir sind beide todmüde.Sobald ich meine Abendroutine abgeschlossen habe, werde ich wie ein Stein insBett fallen. Ich werfe einen Blick aus dem Fenster. Mittlerweile ist esStockdunkel. Nur noch die schwache Straßenbeleuchtung erhellt die Nacht. Ichwende mich vom Fenster ab und gehe durch den Eingangsbereich die Treppe hochzum Badezimmer. Auf dem Weg treffe ich meine Mutter, schon halb schlafend. Wirsagen uns gute Nacht, und sie schlurft die Treppe runter in ihr Schlafzimmer.Nach dem ich meine Zähne geputzt habe, ziehe ich mich um und trete an dasFenster in meinem Zimmer. Im Haus gegenüber brennt nur noch das Licht im oberenStockwerk. Ich lege mich hin und dämmere mit dem Gedanken an meinen erstenSchultag morgen in den Schlaf.

Your Eyes Tell DangerWhere stories live. Discover now