1.

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Der Mann saß da, den Kopf aufgestützt und musterte gelangweilt die tanzende Menschenmenge.

Unförmig, unpassend zum Beat bewegte sich die Masse, die Luft war stickig von Rauch und Schweiß.

Es widerte ihn an.

Gelangweilt drehte er das Glas von links nach rechts.

Das Eis war geschmolzen.

Was sollte es? Wasser schmeckte auch warm.

Und er trank nichts anderes, wenn er arbeitete.

Alkohol ließ ihn unkonzentriert werden.

Und er durfte sich keine Fehler erlauben.

Er ließ seinen Blick weiter über die Tanzfläche schweifen. Die vergangenen drei Nächte hatten an seinen Nerven gezerrt. Er war müde, ausgelaugt und fand doch keine Ruhe.

In diesem Moment sah er sie.

Zwischen den verzehrten dunklen Gestalten, halbnackt und grotesk, sah sie so unberührt aus, blass, zerbrechlich und passte ebenso wenig hierher, wie er es tat.

Nur auf eine andere Art.

Sie tanzte.

Nicht auf diese anmachende, verkrampft hüftschwingende Weise.

Eher so unauffällig, wie möglich, ein bisschen schüchtern, vielleicht sogar ängstlich, doch selbst im schwachen Licht und Nebel hätte er schwören können, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben.

Sie  trug ein hochgeschlossenes T- Shirt, schlicht mit einem bunten Aufdruck von dem Gesicht einer Frau. Es war diese Schauspielerin, Audrey Hepburn. Er hatte den Film nie gesehen, der Titel hatte sich wenig vielversprechend gelesen.

Irgendetwas mit Frühstück bei einem Juwelier.

Die kurzen, schlanken Beine steckten in einer teuren Jeans, gut erkennbar an dem löchrigen ausgeblichenem Stoff.

Es hatte für ihn nie einen tieferen Sinn gemacht, warum der Trend dazu ging viel Geld für weniger Stoff zu bezahlen.

Die Jeans war vor den bunten Vans mehrmals umgekrempelt.

Es sah irgendwie niedlich aus, so als wäre alles an ihr zu klein geraten.

Und tatsächlich wirkte sie so verloren zwischen den High Heels und knappen glitzernden Oberteilen, dass er unwillkürlich schmunzeln musste.

Der DJ, den man nicht an seinem Können, wohl aber an den großen, goldenen Kopfhörern erkannte, legte irgendein Lied auf, das offensichtlich dem Geschmack der breiten Masse entsprach, klatschte in die Hände und schlagartig wurde es auf der Tanzfläche so voll, dass er sie nicht mehr sah.

Sein Herz machte einen erschrockenen Sprung und er hätte sich beinahe die Blöße gegeben, aufzustehen und sie zu suchen.

Er wusste nicht, warum.

Es sollte ihn nicht interessieren.

Nichts durfte ihn interessieren.

Unruhig wippte sein Fuß, das Wasser schwappte über, als das Glas von der einen in die andere Hand glitt.

Der Tisch war uneben, das Holz splittrig, er fühlte die Ritzereien an seinen Unterarmen und zog sich seine Jacke über, nur um sie im nächsten Moment wieder auszuziehen.

Warum schrieb Iván nicht?

„Ist hier noch frei?“

Eigentlich bekam er solche Fragen selten zu hören, er gehörte nicht zu der Sorte von Mensch, denen man sich unnötig näherte.

Unsere Wahrheit - Stockholm SyndromeWhere stories live. Discover now