VIER

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JETZT

Das Fenster steht offen. Der Geruch von Regen schleicht sich ins Zimmer und beißt sich fest. Petrichor.

Die weiße Decke starrt mich an. Im Hintergrund läuft eine Playlist für regnerische Nächte, Keane. Ich atme tief ein, lege mir eine Hand auf die Brust. Spüre, dass ich lebe. Der Raum ist kühl, auf der Schwelle zu kalt.

Meine Familie ist ausgeflogen, auf der Suche nach Freiheit und Abenteuer. Unser Haus liegt im Nebel verborgen.

Ich stehe auf und ziehe meine Regenjacke an. Dann verlasse ich das Haus, um den See aufzusuchen.

Eben habe ich mir alte Fotoalben angesehen. Meine Eltern in schwarz-weiß, ihre verblasste Geschichte. Isa und ich in der Natur, immer auf der Suche.

Ich vergrabe die Hände in den Taschen und laufe los. Es ist früher Abend. Schotter knirscht unter meinen Füßen. Bis ich den Waldweg erreiche, der zum See führt, dauert es eine Weile, in der ich meine Umgebung, so gut es geht, in mir aufnehme.

Ein leichter Wind bläst mir die Haare in die Stirn. Mit der Zunge fahre ich mir über die trockenen Lippen, während mein Blick auf die Laternen gerichtet ist, die auf einem Hügel in der Ferne aufleuchten. Wegweiser in einem Geisterdorf.

Über mir stehen die weiß-grauen Wolken. Der Himmel stirbt ein bisschen.

Ich gehe weiter und erreiche den bekannten Waldweg. Sofort wird mein Herz etwas größer. Ich stelle mir vor, wie der Wald im September aussieht, wenn er der Welt seine volle Pracht zeigt. Orangerote Laubbäume, Sonne, eine kühle Brise. Im Herbst fühlt sich die Welt immer ein bisschen besser an.

Zwischen meinen Fingern knistert es. In der linken Jackentasche finde ich einen Zettel. Mein Körper erwacht. Mit klopfendem Herzen falte ich das Papier auseinander. In unordentlicher Schrift steht da:

BUCKET LIST

- bei regen im see schwimmen

- um 3 uhr morgens auf dem balkon sitzen und schokokirschkuchen essen

- sonnenblumen pflücken

- eine flaschenpost schreiben und eine finden

- einen roadtrip machen

- dein lächeln küssen

- tiefgründige küchenbodengespräche führen

- wir, an offenen fenstern bei nacht

- in den sonnenaufgang tanzen

- bücher tauschen

- plattenläden besuchen

- einen berg erklimmen

- nicht aufgeben / bleiben

Mir stockt der Atem, ich bin tief im Inneren berührt. Wem gehört dieser Zettel? In der Hoffnung, einen Hinweis auf den Autoren dieser Liste zu finden, drehe ich das Papier um.

Die Angst, nicht genug zu sein, verschlingt mich. Sie ist das weite, stürmische Meer und ich der Junge, der nicht schwimmen kann. Ich ertrinke.

Ich schlucke. Genauso fühle ich mich schon seit mehreren Monaten. Und die Wellen werden immer höher.

Während ich meinen Weg zum See fortsetze und die Sonne vor mir langsam untergeht, verschwinde ich in Gedanken. Fliehe in eine andere Welt.

Als ich am Steg ankomme, sitzt dort jemand, zu einer kleinen Kugel zusammengekrümmt. Finley.

Meine Brust wird zur Schlucht. Dunkle Trauer sammelt sich in ihr wie Wasser.

Bleiben.

Langsam gehe ich zum Ende des Stegs, während ich gleichzeitig das dringende Bedürfnis verspüre, umzukehren. Die Einsamkeit hat mich scheu gemacht. Vielleicht will er auch einfach nur allein sein?

Vor lauter Regentropfen fällt es mir schwer, etwas zu sehen. Heute trage ich meine Brille und die von Wasser benetzten Gläser lassen die Umwelt verschwimmen.

In einer verschwommenen Welt ist es leichter, unterzutauchen.

Ich ertrinke.

Meine Schritte sind leise. Mein Herz schreit. Ohne ein Wort zu sagen, lasse ich mich neben Finley nieder, so, wie er es bei unserer letzten Begegnung gemacht hat. Ich beobachte, wie die Regentropfen auf die Oberfläche des Sees einprasseln und sie zerstören.

Du wolltest hier Schlittschuhlaufen. Jeden Winter hast du mich mitgeschleppt.

Ich schlucke. Drehe mich zu dem Jungen neben mir. „Finley."

Er sitzt immer noch gekrümmt da, hat wie letztes Mal die Arme um die Knie geschlungen und das Kinn daraufgelegt. Die Augen geschlossen. Ich vermisse ihre Farbe. Die Gefühle in seinem Blick, wie ein Sturm.

Die schwarzen Haare machen ihn heute besonders blass. Er sieht anders aus, scheint ein Anderer zu sein.

Er reagiert nicht. Ich traue mich nicht, noch etwas zu sagen, will ihn nicht bedrängen. Bin immer noch ein Schneesturm, der leiser wird. Zweifel überschwemmen mich.

Heute trägt er einen braunen Mantel über seinem grauen Rollkragenpullover. Mein Herz schlägt höher. Dark academia.

Dann fällt mein Blick auf die Kette, die von seinem Hals baumelt. Eine in Silber gefasste Schlange, von einzelnen Smaragdelementen gespickt.

„Hey", hauche ich. „Ist alles in Ordnung?"

Keine Antwort, keine Reaktion. Als ich in den Himmel schaue, spüre ich tief in mir eine Mischung aus Melancholie und Freiheit. Sie fühlt sich neu an, besser.

Trotzdem wird mein Kopf noch von Geistern beherrscht.

Von dir. Du bleibst.

Und ich gehe, entferne mich von mir selbst. Zu schnell versinke ich in Gedanken. Als ich auftauche, blickt er auf den Platz zwischen uns, dann auf meine Beine. Ich beobachte, wie sein Adamsapfel hüpft, als er schluckt. Vermutlich ist er ungefähr in meinem Alter. Achtzehn oder neunzehn, in der Phase der Selbstfindung und -entdeckung, der Traumtanzerei, der Höhenflüge und Bodenstürze, die noch dramatisch wirken.

Die Jahre des Gefühlschaos. Aber hört es je ganz auf?

Ich halte den Atem an, um ihn anschließend langsam entweichen zu lassen. Kleine Wölkchen bilden sich in der Luft. Noch ist es kühl, der Februar grünblau, angetrunken in Richtung Frühling wankend.

Der Blick seiner dunkelbraunen Augen liegt auf mir. Ich schaue zurück, in die Vergangenheit. Und plötzlich sind seine Augen deine, in denen ich jedes Mal ertrank. Auf eine Weise habe ich mich schon damals selbst verloren.

Ich bestehe aus dem Gestern.

Dann verlässt sein Blick mich und widmet sich dem wilden Wasser vor uns. Erst jetzt bemerke ich die Träne, die seine Wange hinunterläuft.

Es ist nicht alles in Ordnung, aber wann ist es das schon? Ich habe den Glauben an den Frieden auf der ganzen Welt aufgegeben.

Mir fehlt deine positive Art, das Leuchten deiner Augen, wenn du von Dingen erzähltest, die du liebst: wie dein Bruder dich aus der fernen Unistadt besuchen kam und in seine warme, feste Umarmung zog, wie du Zimtschnecken gebacken hast, um später mit mir ein Mitternachtspicknick auf dem Dach zu veranstalten, wie du auf Fahrradtouren an jedem Blumenfeld anhieltest, um hineinzustürmen. Sommerkind.

Das letzte Mal, als ich mit dem Zug gefahren bin, hatte ich einen Gedichtband dabei, Musik und Gebäck.

Ein Gedicht ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Ich rufe es mir zurück ins Gedächtnis.

summer is coming
and I'm drowning
in the red-pink-yellow sky
my soul gets dry
some nights are the melancholic blue kind of art
and it's hard to be my own guard
sometimes I'm afraid but I'll wait
and as the sky turns dark
I remain searching.

Ich habe das Gefühl, Finley geht es ein bisschen wie mir.

In uns beiden wachsen Berge, die den Himmel nie berühren werden. 

DIE EINSAMKEIT DER STILLEWhere stories live. Discover now