Kapitel 89 - Museum (Teil 2)

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"Das willst du gar nicht wissen"

"Und wenn doch?", entgegne ich und ziehe meine Augenbrauen hoch wie er auch sonst. Er dreht sich um und läuft zu dem Durchgang zu einem weiteren Raum.

"Der Kasten wird über den Bauch einer Person gelegt und dann kommen Ratten rein. Durch die Hitze suchen sie einen Weg nach draußen, dann ...", sagt er immer lauter, da er sich immer mehr entfernt.

"Stopp", unterbreche ich ihn und laufe einen Schritt schneller um ihn einzuholen, "Vielleicht hattest du recht und ich wollte es gar nicht wissen"

"Sag bloß", kommentiert er und lachte leise. Ich versuche seine Erklärung von eben zu vergessen und sein Lachen hilft mir dabei. Wir kommen im nächsten Raum an und mein Blick geht direkt zur Decke. Oben hängt ein riesengroßes Skelett von einem Flugvogel und zwischen den rippenartigen Knochen steckt eine durchsichtige Kugel, in welcher ein Puzzleteil ist. Unter dem Flugsaurier steht ein großes Mammut mit zwei gefährlich spitz aussehenden Stoßzähnen und einem ausgestreckten Rüssel. 

Wir laufen einige Schritte zur Mitte des Raumes und heften unseren Blick nach oben auf die Kugel. In der selben Sekunde, in der ich zu Chishiya sehe erwidert er meinen Blick und wir sehen wieder nach oben. Es ist klar was unsere einzige Chance ist an das Puzzleteil zu kommen, nämlich auf das Eiszeittier zu klettern und zu versuchen an die Kugel zu gelangen. Wir laufen zur Seite des Tieres und ich bilde mit meinen Händen eine Brücke wie damals im Cheerleader Team, um ihm zu helfen nach oben zu kommen. Er sieht mich unbeeindruckt und mit hochgezogenen Augenbrauen an.

"Was? Das klappt schon", beharre ich und verdrehe die Augen.

"Du bist kleiner als ich Sayuuri. Wenn ich erstmal da oben bin kannst du nicht weitgenug hochspringen", grinst er und ich sehe noch einmal nach oben. Das sieht schon ziemlich weit aus, ich bin mir nicht mehr ganz sicher, dass ich so hoch springen kann. Als ich wieder zu Chishiya sehe hat er die Hände schon gefaltet und ich gebe mich geschlagen. Ich lege meine Hände auf seine Schultern und stelle einen Fuß auf seine Handbrücke. 

"Auf drei?", fragt er mich als ich zu ihm aufsehe. Ich versuche auszuschalten wie nahe wir uns sind und nicke bestätigend. 

"Eins", beginnt er und ich werfe noch einen kurzen Blick nach oben um einen Punkt auszumachen, an dem ich mich am Fell festhalten kann.

"Zwei", zähle ich weiter und sehe wieder zu ihm.

"Drei", sagt er und gleichzeitig wie ich mein Gewicht auf meinen rechten Fuß verlagere und mich abdrücke, setzt Chishiya seine Kraft ein und drückt mich nach oben. Ich kralle mich in das Fell des Mammuts und ziehe mich nach oben. Ich schwinge meine Beine über den Rücken des Tieres und als Chishiya hochklettert strecke ich ihm meine Hand entgegen, um ihm zu helfen. Soweit so gut. Wir stehen vorsichtig auf und ich sehe dem Rüssel des elefantenähnlichen Tieres. Ich klettere auf den Kopf und beginne auf den langen, ausgestreckten Rüssel zu klettern.

"Denkst du du bekommst das hin?", höre ich Chishiyas Stimme hinter mir.

"Wenn ich es schaffe bei einer Menschen-Pyramide ein Bein um hundertsechziggrad hoch zu strecken und mit dem anderen auf einer einzigen Hand zu balancieren, bekomme ich auch das hin", lache ich nur und stemme mich auf das Ende des Rüssels. Ich versuche das Gleichgewicht zu halten und fixiere eine bestimmte Rippe an. Ich springe ab und halte mich an dem Knochen fest. Bei dem Escapespiel habe ich es gerade so geschafft einige Sprossen entlang zu hangeln, weswegen ich meine Beine durch das Knochengerüst stecke und mich herunterbaumeln lasse.

Ich spanne meine Bauchmuskeln an und schwinge mich hoch, sodass ich mich an einer anderen Rippe festhalten kann. Ich lockere meine Beine und drehe mich, wobei ich mein ganzen Gewicht auf den Armen halte, damit ich die Beine um die entgegengesetzte Rippe schlingen kann. Meine Seite mit der Haibisswunde beginnt zu brennen und ich habe das leise Gefühl, dass durch die Anstrengung meine Verletzung wieder ein wenig aufgerissen ist. Ich verkrampfe meine Beine und strecke mich wieder nach oben, um an der Kugel herum zu werkeln. Das durchsichtbare Glas passt niemals durch die Rippenknochen, weshalb ich versuche sie aufzubekommen. Ich lasse mich einen Moment hängen, um die Schmerzen an meiner Bauchseite auszuschalten bevor ich es erneut versuche. 

Ich bekomme das Gefäß auf und stecke meinen Arm durch das Skelett, um das Puzzleteil zu greifen. Ich lasse mich wieder kopfüber baumeln und sehe zu Chishiya.

"Lass es auf den Boden fallen", weißt er mir an und ich tue genau das. 

"Und was jetzt?", frage ich während ich meine Beine aus den Knochen löse und mich nur noch an den Händen festhalte. 

"Lass dich einfach fallen"

Verwirrt sehe ich zu ihm runter und beobachte, wie er sich in Stellung bringt. Das verlangt er nicht wirklich von mir.

"Chishiya...", versuche ich meine Bedenken auszudrücken, während mein Griff immer lockerer und rutschiger wird. 

"Du bist leicht wie eine Feder, ich bekomme das hin", sagt er überzeugend, aber ich habe immer noch meine Zweifel, "Vertrau mir"    

Verdammt, das tue ich. Ich atme tief durch und schließe meine Augen. Unter mir geht es mehrere Meter nach unten, wenn ich aufpralle kann ich mir leicht die Beine brechen. Ich lockere meinen Griff und lasse mich wie er sagte einfach fallen. Sobald ich auf seiner Höhe bin legt sich sofort sein Arm um meine Hüfte und mit einem Ruck rutschen wir ab. Ich lasse meine Augen geschlossen, aber als der Aufprall ausbleibt sehe ich, wie Chishiya sich mit seiner freien Hand in das Fell gekrallt hat und uns beide trägt. Ich schwinge mich zur Seite und greife ebenfalls in das braune Fell, um ihm die Last abzunehmen. Langsam hangeln wir und nach unten und den letzten Meter springen wir wieder. Ich stolpere fast, kann mich aber fangen und bleibe auf beiden Füßen stehen. Chishiya fängt sich weniger elegant ab, aber auch er steht fest auf beiden Beinen. Mein Körper zittert leicht vor Anstrengung, aber als ich einen leichten Blutfleck auf seiner Weste erkenne ist alles wie weggeblasen. 

Ich laufe zu ihm und ohne eine Reaktion von ihm abzuwarten öffne ich den Reißverschluss seiner Weste. Er sieht mich ein wenig überrumpelt an, aber ich ziehe beide Seiten auseinander, um einen Blick auf seine Verletzung zu erhaschen. Den Verband hat er mittlerweile abgenommen, weshalb ich Sicht auf die Schnittwunde unter seiner Brust habe. Die linke Seite ist leicht aufgerissen, aber es scheint nichts ernstes zu sein. Er legt seine Hand beruhigend um mein Handgelenk und ich sehe zu ihm auf direkt in die Augen.

"Mir geht es gut, unsere beiden Verletzungen sind aufgerissen", sagt er und sein Blick geht an mir nach unten. Meine Hand geht automatisch unter den Pullover zu meiner Wunde und als ich sie wieder hervorhole, klebt ein wenig Blut daran.

"Wir müssen weiter", sage ich nur und als er seine Augenbrauen hochzieht packe ich seine Reißverschluss und ziehe ihn wieder nach oben, bevor ich zum nächsten Durchgang laufe. Ich höre ein leichtes Lachen hinter mir, als mir plötzlich ein Schrei durch Mark und Bein geht. Ich drehe mich in die Richtung, aber Chishiya stellt sich in meine Blickrichtung.

"Aber seit gewarnt: Hinter jeder falschen Wahl steckt eine neue Gefahr", zitiert er die mechanische Frauenstimme vor dem Spiel. Mir kommt ein Gedanke an unsere letzten Räume und sehe ihn fragend an.

"Wenn du das falsche Foltergerät ausgewählt hättest...", beginne ich und lasse den Satz offen stehen.

"Bei der Guillotine wäre sicher die Klinge heruntergeschellt", sagt er schon fast unberührt und mit einem schwachen grinsen.

"Und bei den Gemälden?"

"Wahrscheinlich Sprengkörper oder Giftpfeile hinter den falschen Gemälden", antwortet er ehrlich und ich sehe ihn entgeistert an.

"Du hast ohne zu zögern das Bild heruntergenommen", entfährt es mir und er sieht mich nur mit seinem typischen Blick an.

"Ich habe dir vertraut"

Meine Wangen beginnen augenblicklich zu glühen und ich sehe ihn mit großen Augen an. Er hat mich vertraut, obwohl der Einsatz sein Leben war?

"Komm, wir müssen weiter", tut er die Sache einfach so ab und ich brauche einen Moment, um mich wieder zu fangen. Wir laufen in den nächsten Raum und vor uns tuen sich insgesamt acht Türen auf. Auf allen ist eine Art Vasenmalerei zu sehen. Chishiyas Blick sieht direkt zu mir, während ich über die Musterungen beeindruckt streiche.

"Das ist griechisch, nicht wahr?"

"Ja", antworte ich und gehe zu der nächsten Tür. Die Bilder sind mit einer erstaunlichen Präzision eingraviert worden und jedes der Bilder kommt mir bekannt vor. 

"Sayuuri", sagt Chishiya strenger und als ich zu ihm sehe, deutet er mir mit einem Nicken zur Decke. Durch eine Projektion erscheint ein Wort darauf: Tragödie.



Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt