Kapitel 70 - Goldregen

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Sie fordert mich still auf, ein wenig zur Seite zu gehen und Platz zu machen. Sie nimmt Sayuuris Gesicht in ihre Hände und dann öffnet sie ihren Mund und sieht hinein.

"Ist dir übel?", fragt sie weiter und Sayuuri nickt nur, "Erhöhter Speichelfluss aber keine Rötungen im Gesicht. Das sieht aus wie eine Vergiftung durch Goldregen"

"Goldregen?", fragt Sayuuri schwach und bekommt einen Hustenanfall.

"Ein Baum mit gelben Blüten, alle Pflanzenteile sind ausnahmslos giftig. Er enthält das Gift Cytisin, manche Arten auch Ammodendrin. Das erste ähnelt in der Wirkung dem Gift der Pfeilgiftfrösche, das zweite wirkt sich schädigend auf das zentrale Nervensystem aus", erklärt sie und ließt aus dem Buch vor, "Symptome sind Herzrasen, erhöhter Speichelfluss, Schweißausbrüche, Erbrechen mit Blut, Zittern, Übelkeit, Kreislaufversagen, Atemlähmung und Krämpfe. In der Fußnote steht: Werden die Samen oder andere Teile verschluckt, kann es innerhalb eines kurzen Zeitraums zum Tod, meist durch Atemstillstand, kommen"

"Schlechteste Gute-Nacht-Geschichte, die ich je gehört habe", sagt Sayuuri trocken und versucht die Situation mit einer Lache zu überspielen.

"Wir haben doch bestimmt ein Gegenmittel da, oder nicht?", frage ich Ann und sie scheint nachzudenken.

"Ich vermute ja, aber nicht viel. Es sollte aber reichen, das einzige Problem ist ich habe keine Ahnung wo", runzelt Ann die Stirn und schiebt ein Metallgestell neben Sayuuri. Sie hängt eine Infusion daran und holt aus einer Schublade einen Venenkatheter und eine Spritze raus. "Ich lege erst einen Zugang und spritze ihr etwas zur Beruhigung. Danach hänge ich sie an den Tropf, der müsste gegen die Übelkeit vorbeugen während wir das Mittel suchen"

Da ich es nicht anders machen würde nicke ich nur und während sie den Katheter legt, fange ich an nach diesem verdammten Gegenmittel zu suchen. Nach einer Minute fängt Ann auch an zu suchen. Am liebsten möchte ich die ganzen Fächer rausreißen aber ich darf nicht aus der Fassung geraten, und vor allem nicht vor jemandem aus der Führungsrege.

"Ann", höre ich Sayuuri sagen und als ich mich umdrehe sehe ich, wie sie versucht sich aufzurichten und nach dem Eimer zu greifen. Ich sehe zu der ehemaligen Forensikerin und sie nickt mir zu, dass sie weitersucht. Ich stehe auf und laufe zur Krankenliege. In dem Moment als ich ihr den Eimer reiche und ihre Haare nach hinten halte zuckt sie zusammen und ein wenig Blut läuft aus ihrem Mund. Ich kann meinen Blick für einen Moment nicht von dem Blut abwenden, doch als Sayuuri sich müde auf die Liege fallen lässt löse ich mich aus meiner Starre. Sie hält sich den Bauch und zuckt ein wenig, während ihre Hände stark zittern.

"Nicht auf den Rücken legen! Entweder aufsetzen oder auf die Seite legen", sage ich ihr und kraftlos versucht sie sich auf die Seite zu drehen und leicht aufzurichten. Sie nimmt mir den Eimer ab und wischt sich mit dem Handrücken ein wenig Blut vom Mund.

"Das solltest du nicht sehen", sagt sie weil es ihr unangenehm ist, aber ich lasse nicht von ihr ab. Sie fängt wieder stärker an zu zittern, weswegen ich wieder ihre Haare nehme und erneut ein Strahl verdünntes Blut aus ihrem Mund kommt. Das ist gar nicht gut.

"Wer soll dir dann die Haare zurückhalten", versuche ich ein Grinsen zustande zu bringen.

"Ich habe das Mittel", ruft Ann und rennt zu uns. Sie injiziert das Gegenmittel in Sayuuris anderen Arm und fühlt ihren Puls. Ich stelle den Eimer wieder auf den Boden und das Beruhigungsmittel scheint seine Wirkung zu entfalten. Sie atmet ruhiger und langsam fallen ihre Augen zu. "Sie wird eine ganze Weile schlafen, aber das wird wieder"

Ich beruhige mich ein wenig und laufe zu einem der Stühle neben der Krankenliege. Ich achte auf jede Bewegung von Sayuuri, jedes Zucken und warte bis ich mir sicher bin, dass es ihr besser geht und sie schläft. Ann räumt noch ein zwei Sachen weg, dann überprüft sie den Katheter und klebt ein kleines Pflaster auf die Einstichstelle am anderen Arm. Ich habe keine Lust mit ihr zu reden und hoffe nur, dass sie gleich verschwindet.

"Du magst sie nicht wahr?"

Das brauchst du nicht zu wissen, es ist schließlich meine Angelegenheit.

"Sie ist eine gute Spielerin, also ist sie auch nützlich", sage ich trocken und ziehe nur grinsend meine Augenbrauen hoch, obwohl mir gar nicht danach ist.

"Wenn du bei der Meinung bleiben willst, also ich kann sie gut leiden", höre ich sie schon fast die Augen verdrehen, "Bleibst du bei ihr, ich brauche dringend Schlaf?"

"Ja", sage ich nur knapp und nach einem letzten Mal Pulsüberprüfen dreht sich Ann zum gehen um. Ich habe mir schon gedacht, dass Ann was für sie übrig hat. An der Tür vorhin wollte sie mich schon abwimmeln, aber als ich meinte dass es Sayuuri nicht gut geht ist sie mitgekommen. Außerdem war mir bei unseren ersten Begegnungen klar geworden, dass Sayuuri jemand ist den die Leute gern haben. Selbst Aguni scheint ein wenig warm mit ihr geworden zu sein, jedenfalls auf seine eigene Art und Weise.

Aber ich hätte nicht gedacht, dass das auch für mich gelten würde.

Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt