Kapitel 65 - Zerbrochene Glasscheibe

Beginne am Anfang
                                    

"Natürlich", sagt er selbstsicher und von sich selbst überzeugt, "Aber nicht so süß wie das hier"

Er sieht bedeutend auf das Foto, doch ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden. Wir sind uns so nahe und irgendwie beginnen meine Fingerspitzen zu kribbeln. Ich schüttele das Gefühl ab ihm noch näher zu kommen und beiße mir leicht auf die Unterlippe. 

"Woher wusstest du wo die Personalumkleiden sind?", frage ich ihn neugierig. Meine Mutter hat als Krankenschwester gearbeitet und mich öfters nach der Schule mit auf die Arbeit genommen. Daher wusste ich von dem zweiten Ausgang im Fahrstuhl zu dem Bereich, zu dem nur das Personal Zutritt hat.

"Mein Vater ist der Direktor des Krankenhauses", sagt er ehrlich und scheint meinen Gesichtsausdruck genau zu analysieren. Er scheint keine enge Bindung zu seinen Eltern zu haben und doch kann ich fühlen, dass ich die Erste bin die das zu hören bekommt. Unsere Wege hätten sich also nicht nur in der Universität treffen können und doch ist er mir nie aufgefallen. Irgendwie finde ich es schade, dass wir uns nicht schon vor dem Borderland kennengelernt haben. 

"Ich habe dich nie in der Kantine zur Mittagszeit gesehen", bemerke ich und er zuckt nur mit den Schultern. 

"Mein Vater war ständig in seine Medizinbücher vertieft und hat immer die Zeit aus den Augen verloren"

Innerhalb der letzten Minuten habe ich mehr über ihn erfahren, als in den letzten Wochen. Während ich die Informationen verarbeite muss ich zugeben, dass diese Dinge einfach zu ihm passen. 

"Falls wir je wieder in unser normales Leben zurückkommen, gehen wir erst einmal in der Kantine etwas essen und ich lade dich ein", lache ich und er erwidert es mit einem Lächeln. Ich lege das Foto zur Seite und atme die frische Luft ein. 

"Es fängt gleich an zu regnen", bemerkt er mit den Augen auf den Himmel gerichtet und deutet an, dass wir reingehen sollten. Ich möchte noch nicht gehen und lege mich leicht lachend hin.

"Ich weiß", sage ich und spüre seinen Blick auf mir. Ich höre ihn nur schnaufend lachen und erwarte schon, dass er einfach aufsteht und geht. Doch er zieht nur die Kapuze seiner weißen Weste auf und legt sich an meine Seite. Ich bemerke seinen Blick während ich die Augen schließe und mich einfach entspanne. Das letzte Mal als ich nach dem Pik 10 Spiel mit dem Hutmacher geredet habe und es angefangen hat zu regnen, hat es sich angefühlt wie als würde all das schlechte von den Spielen weggewaschen werden. Genau das brauche ich jetzt auch, Regen der all das schlechte von den letzten Tagen abspült. 

"Dir ist aber schon bewusst, dass man sich im Borderland auch erkälten kann", sagt er als die ersten Tropfen meine Haut berühren.

"Wenn du krank wirst verspreche ich dir mich um dich zu kümmern und dir warme Milch mit Honig zu machen", scherze ich und ich höre ihn neben mir leicht lachen. Mit seinem Lachen und dem kalten Regen genieße ich einfach den Moment und schalte meinen Kopf ab. 

Als ich nach einer Zeit meine Augen wieder öffne setze ich mich auf und fühle mich gleich viel besser. Chishiya steht auf und reicht mir die Hand, um mir auf die Beine zu helfen. Ich nehme sie entgegen und lasse mich von ihm auf die Füße ziehen. Seine vorderen beiden Haarsträhnen sind nass und kleben leicht an seinem Gesicht und seine Augen wirken schon fast schwarz. Zusammen laufen wir nach drinnen und steuern automatisch mein Zimmer an. Ich kann nicht anders als glücklich zu lachen und stoße ihn leicht mit der Schulter an, was ihn dazu veranlasst breit zu Grinsen. 

"Und was machen wir noch? Schach, Karten spielen...", zähle ich auf als ich meine Zimmertür hinter uns schließe und stehen bleibe. Er scheint nachzudenken und dreht sich zu mir, damit wir voreinander stehen. Er lächelt nur sodass ich seine vorderen Zähne erkennen kann, doch als er mich einen Moment länger ansieht wird sein Lächeln sanfter. Mir schießt nur ein Gedanke durch den Kopf: Wie kann man sich nicht in diesen Mann verlieben?

Plötzlich hebt er seine Hand und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die durch den Regen nass an meiner Wange geklebt hat. Eine Gänsehaut  breitet sich an der Stelle aus, die er berührt und er lässt seine Hand ein wenig sinken. Hat er überhaupt im entferntesten eine Ahnung, was er mit mir macht und wie ich auf ihn reagiere? Meine Wangen fühlen sich an, als würden sie rot wie eine Tomate anlaufen und automatisch stoppt meine Atmung. Chishiya öffnet leicht seinen Mund wie als möchte er etwas sagen, hält dann aber inne. Er versucht plötzlich meinem Blick auszuweichen, doch seine Augen bleiben an meinen Lippen hängen. Ich müsste mich nur einige Zentmeter vorbeugen und ...

Meine Gedanken setzen vollkommen aus und mein Kopf schaltet sich ab, als seine Lippen meine streifen und in meiner Brust breitet sich ein warmes und flatterndes Gefühl aus. Ich möchte gerade einen Schritt auf ihn zumachen um ihn richtig zu küssen, doch ein Klopfen an der Tür lässt uns beide erstarren und wir sehen zu der Tür. Mit weichen Knien taumele ich einen Schritt nach hinten, bevor ich wieder zu Chishiya sehe. Er scheint sich wieder zu fangen und während er seinen typisch, hochnäsigen Blick aufsetzt steckt er seine Hände zurück in die Westentaschen. Obwohl ich immer noch kein Wort rausbekommen kann fühlt es sich so an, als wäre gerade eine Glasscheibe zerbrochen. Ich schüttele kurz meinen Kopf und öffne die Tür, um zu sehen wer um diese Uhrzeit noch bei mir klopft. Überfordert von der Situation sehe ich zu Katsu, welcher vor meiner Tür steht und die Augenbrauen runzelt, als er meinen verwirrten Gesichtsausdruck erkennt.         


Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt